Boraas' Augen funkelten wütend. »Du bist klug, Kim«, sagte er. »Fast schon zu klug. Aber ich werde, wie gesagt, mit offenen Karten spielen. Ich habe noch einen Trumpf im Ärmel.«
»So?« fragte Kim.
»Deine Schwester.«
Kim zuckte zusammen. Aber kein Laut kam über seine Lippen. Er ballte nur in stummer Wut die Fäuste.
Boraas grinste höhnisch. »Du hast den Wunsch geäußert, sie zu sehen. Nun gut, ich will ihn dir erfüllen. Vielleicht bist du hinterher ein wenig einsichtiger.« Er stieß sich mit einem Ruck von der Mauer ab, ging zur Tür und winkte Kim, ihm zu folgen.
Der Weg führte steil treppab, durch endlose Gänge, vorbei an unzähligen Türen und Abzweigungen. Kim versuchte sich den Weg zu merken, sah aber bald ein, daß es aussichtslos war. Morgon schien ein einziges, gigantisches Labyrinth zu sein. Es war ihm ein Rätsel, wie sich der Zauberer und seine schwarzen Ritter hier zurechtfinden konnten.
Sie blieben vor einer hohen, verschlossenen Metalltür stehen. Kim konnte nirgends ein Schlüsselloch oder eine Klinke erkennen. Boraas berührte die Tür flüchtig mit seinem Stab. Ein heller Glockenton erklang, und die Metallplatte fuhr zischend in die Wand zurück.
Kim schloß geblendet die Augen. Gleißendes Licht flutete ihm entgegen. Es dauerte eine Weile, bis er sich an die unnatürliche Helligkeit gewöhnt hatte. Das Gesicht mit einer Hand abgeschirmt, trat er durch die Tür.
Der Raum unterschied sich von allem, was er in Morgon bis jetzt gesehen hatte. Die Wände waren aus Metall, und die Decke schien ein einziger, gewölbter Spiegel zu sein.
Kim schrie auf.
Die spiegelnde Rückwand des Raumes teilte sich und gab den Blick auf einen quadratischen schwarzen Steinsockel frei. Auf seiner polierten Oberfläche stand ein großer gläserner Sarg. Und in ihm lag eine kleine, blasse Gestalt.
»Rebekka!«
Boraas machte kein Hehl daraus, daß er die Situation genoß.
»Ja, Kim. Deine Schwester. Du wolltest sie doch sehen, oder?«
Kim trat einen Schritt auf sie zu und prallte gegen eine unsichtbare Wand.
»Was hast du mit ihr gemacht?« fragte er mit zitternder Stimme.
»Nichts«, antwortete Boraas. »Und um deiner nächsten Frage zuvorzukommen - ich werde ihr auch nichts tun. Sie schläft, das ist alles.« Er verzog die Lippen zu einem boshaften Lächeln. »Es ist jedoch kein sehr ruhiger Schlaf«, fuhr er erklärend fort. »Sie schläft, aber sie ist trotzdem wach.« Er tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe. »Ihr Körper schläft, doch ihr Geist ist wach. Und sie wird so lange weiterschlafen, wie ich es will. Keine Macht der Welt kann sie erwecken, Kim. Nur ich. Und die Entscheidung liegt ganz allein bei dir.«
Kim schloß die Augen. Er versuchte sich vorzustellen, wie das sein mußte - dazuliegen, alles um sich herum zu hören und zu fühlen, aber sich nicht rühren zu können, gefangen in einem unsichtbaren Kerker. Die vier Tage in Boraas' finsterem Verlies hatten ihn fast an den Rand des Wahnsinns getrieben. Doch das, was seine Schwester durchmachen mußte, war tausendmal schlimmer.
»Du... du Ungeheuer«, rief er. »Du Monster. Du...« Er ballte die Fäuste und trat drohend auf Boraas zu.
Boraas lachte. »Du nennst mich ein Ungeheuer?« sagte er belustigt. »Das Schicksal deiner Schwester liegt in deiner Hand, Kim. Ein Wort von dir genügt, und ich werde sie aufwecken. Jetzt sofort, wenn du willst.«
Mit einem Mal ahnte Kim, was Boraas gemeint hatte, als er sagte, er würde anfangen, ihn zu hassen. Plötzlich hatte er keinen anderen Wunsch, als sich auf diesen bösen alten Mann zu stürzen und ihn zu erwürgen.
Boraas kicherte.
»Weiter so, Kim. Weiter! Du bist auf dem richtigen Weg! Du beginnst bereits, mich zu hassen.«
»Das... das stimmt nicht«, keuchte Kim.
»Doch, es stimmt, ich weiß es. Ich lese in dir wie in einem offenen Buch. Es gibt nichts, was du vor mir verheimlichen könntest. Sieh ein, daß du verloren hast.«
Kim stöhnte. »Ich...«
»Du hast keine Wahl«, fuhr Boraas unbeirrt fort. »Du kannst deine Schwester von ihrer Qual erlösen und dich freiwillig auf meine Seite stellen. Oder du kannst ihr Leiden verlängern, Tage, Wochen, vielleicht Monate, bis dein Haß dich überwältigt hat. Du hast keine Wahl!« Die letzte Spur von freundlichem Spott war aus seiner Stimme gewichen.
»Entscheide dich!« sagte Boraas.
Kim war wie gelähmt. Mit einem Gefühl vollkommener Hilflosigkeit starrte er den gläsernen Sarg an.
»Rebekka...« flüsterte er. Seine Augen füllten sich mit Tränen.
»Nun gut«, sagte Boraas. »Ich sehe ein, daß dies alles etwas zuviel für dich war. Ich gebe dir noch eine Stunde, dich zu entscheiden. Aber keine Sekunde mehr.« Er hob seinen Stab, und die schimmernde Metallwand schob sich wieder zwischen sie und den Sarg.
»Komm jetzt!«
Kim wankte hinter dem Magier aus dem Raum. Eine schwarze Gestalt, durch den Schleier von Tränen nur undeutlich zu erkennen, tauchte vor ihm auf.
»Bring ihn in den Thronsaal«, befahl Boraas. »Und gib gut auf ihn acht.«
Der schwarze Ritter legte Kim eine schwere, gepanzerte Hand auf die Schulter.
Boraas drehte sich um und entfernte sich mit schnellen Schritten, während Kim und seine Bewacher den Weg zurückgingen, den sie gekommen waren.
Kims Gedanken klärten sich allmählich. Er zitterte am ganzen Leib, und seine Kehle war trocken und wie zugeschnürt. Er wußte, daß Boraas recht hatte, mit jedem Wort. Er hatte keine Wahl.
Sie erreichten einen Treppenabsatz. Kim stolperte, fing sich im letzten Augenblick an der Wand und wäre um ein Haar gestürzt. Die gepanzerte Hand glitt von seiner Schulter. Kim blieb einen Moment stehen, drehte sich halb um und starrte in das ausdruckslose Metallgesicht.
»Weiter!« befahl der Riese. Seine Hand hob sich drohend. Kim blickte wieder geradeaus. Er setzte den Fuß auf die nächste Treppenstufe - und stieß dem Ritter mit aller Macht den Ellbogen gegen die Brust.
Ein scharfer Schmerz zuckte durch seinen Arm. Der Ritter schrie auf, ruderte mit den Armen und kippte hintenüber. Er schlug mit einem Krachen auf den steinernen Treppenstufen auf, rutschte noch ein paar Meter und blieb dann liegen.
Kim starrte den reglosen Körper erschrocken an. Er hatte nicht nachgedacht, sondern rein instinktiv gehandelt.
Hastig blickte er sich nach allen Seiten um und eilte dann die Stufen zu dem Gestürzten hinunter. Der Ritter bewegte eine Hand und stöhnte leise. Kim bückte sich, zog das armlange Schwert aus der Scheide und wandte sich zur Flucht. Er machte sich nichts vor - seine Flucht würde rasch entdeckt werden, und wenn ihn die schwarzen Ritter stellten, würde ihm auch die Waffe nichts nützen. Aber wenigstens, dachte er grimmig, würde er nicht kampflos sterben. Boraas sollte an den Tag, an dem er ihn gefangengenommen hatte, noch lange zurückdenken.
Er stürmte die schmale Treppe hinauf, bog wahllos in einen Seitengang ein und lief weiter, ohne nur einmal zu verschnaufen. Vor ihm schimmerte graues Zwielicht. Er beschleunigte seine Schritte noch mehr, rannte durch einen niedrigen Torbogen und stand plötzlich auf einem schmalen, zugigen Wehrgang.
Es ließ sich schwer sagen, wer erstaunter war - Kim oder der schwarze Ritter, der plötzlich wie aus dem Boden gewachsen vor ihm auftauchte. Aber genauso wie zuvor auf der Treppe reagierte Kim rein instinktiv. Er sprang zur Seite, trat nach den Beinen des Ritters und riß gleichzeitig das Schwert hoch. Der Ritter taumelte, parierte den Schlag mit seiner eigenen Waffe und stieß ein wütendes Knurren aus. Funken stoben, als die beiden Klingen aufeinandertrafen. Kim wurde von der Wucht des Schlages zurückgeworfen, prallte gegen die Wand und zog schnell den Kopf ein. Die schwarze Klinge seines Gegners klirrte gegen den Stein, beschrieb einen raschen Bogen und stieß abermals zu. Kim wich dem Stich im letzten Moment aus, schlug nach der Hand des Angreifers und entging einem zweiten Hieb mit knapper Not.