Kim preßte den verletzten Arm eng an den Körper und rappelte sich hoch. Er mußte so schnell wie möglich von hier verschwinden. Früher oder später würde Boraas einsehen, daß Kim das Unmögliche geschafft hatte und aus den Mauern von Morgon entwischt war. Und dann würde er seine Krieger herausschicken, und diese würden jeden Stein in der Umgebung umdrehen, um ihn zu finden.
Kim bückte sich nach seinem Schwert und ließ die Waffe enttäuscht fallen. Die Klinge war zerbrochen. Aber mit seinem verletzten Arm hätte sie ihm momentan sowieso nichts genutzt. Aufmerksam schaute er nach einem Fluchtweg aus, um ins Tal hinunterzugelangen. Der Fels fiel auf dieser Seite steil ab und war von Rissen, Spalten und scharfzackigen Graten durchzogen, aber keiner davon schien als Versteck geeignet zu sein. Außerdem war es viel zu riskant, mit einem unbrauchbaren Arm und einer Meute Verfolger im Nacken den steilen Hang hinunterzuklettern. Nein - es gab nur einen Weg ins Taclass="underline" den gleichen, den er gekommen war. Der Gedanke gefiel ihm nicht. Der gewundene Bergpfad bot so gut wie keine Deckung. Und Boraas würde gewiß nicht versäumen, ihm beizeiten diesen Fluchtweg abzuschneiden.
Die Zeit drängte. Kim ging zur Burgmauer zurück, warf einen letzten Blick zu dem schmalen Fenster hinauf und tastete sich dann mit der linken Hand an dem kalten Stein entlang.
Er hatte die falsche Richtung gewählt und mußte Morgon fast umrunden, ehe endlich das halbrunde Tor vor ihm auftauchte. Das rostige Fallgitter war heruntergelassen. Von Wachen oder eventuellen Verfolgern war nirgends eine Spur zu entdecken - was freilich nicht viel besagte. Hinter den schmalen Schießscharten zu beiden Seiten des Tores mochten unzählige Augenpaare die Umgebung beobachten. Der Weg führte fast einen halben Kilometer gerade den Berg hinunter, ehe er hinter der ersten Biegung verschwand. Kim zögerte einen Moment. Sein Blick tastete mißtrauisch an den Zinnen der Mauerkrone entlang. Kim wußte, daß dort oben Wachen auf und ab gingen. Er war einer von ihnen in die Hände gelaufen, und die Begegnung hätte um ein Haar das Ende seiner Flucht bedeutet. Im Augenblick war die Mauer leer, aber der Posten konnte jederzeit von seinem Rundgang zurückkommen, und wenn Kim dann gerade auf dem Weg dort unten war, war er verloren. Aber vielleicht, so überlegte er, hatte Boraas auch alle Posten abgezogen, um sie bei der Durchsuchung der Burg einzusetzen.
Langes Überlegen führte zu nichts. Mit jeder Sekunde, die ungenützt verstrich, wuchs die Wahrscheinlichkeit, daß Boraas endlich die richtigen Schlüsse zog und danach handelte. Entschlossen löste sich Kim von der Mauer und begann den Abstieg.
Die ersten fünfhundert Meter des Weges wurden zum längsten seines Lebens. Immer wieder sah er sich um und blickte mit klopfendem Herzen zum Tor zurück, jederzeit darauf gefaßt, eine Abteilung schwarzer Reiter daraus hervorbrechen zu sehen.
Doch diesmal schien das Schicksal auf seiner Seite zu stehen. Kim erreichte die Wegbiegung, drückte sich hinter einen der zyklopischen Felsen, die den steinigen Pfad flankierten, und verharrte regungslos, um mit angehaltenem Atem zu lauschen. Oben in der Burg blieb alles still. Die einzigen Geräusche waren sein eigener, hämmernder Pulsschlag und das ewige Heulen des Windes, der sich an Felsen und Spalten brach.
Kim trat aus seiner Deckung hervor, blickte scharf den Weg zurück und ging weiter.
Der Abend dämmerte, als er den Fuß des Berges erreichte. Aus den Sümpfen kroch schwarzgrauer Nebel herauf, und der Wind war jetzt nicht mehr kühl, sondern schneidend kalt. Kim hatte kaum noch die Kraft, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Der Weg endete abrupt. Der Fels brach entlang einer scharfen Kante ab, und vor Kim lag flaches, von brodelnden Nebeln und feuchter Kälte erfülltes Sumpfgebiet. Wenige verkrüppelte Bäume wuchsen in unregelmäßigen Gruppen, dazwischen wucherte stacheliges Gebüsch und blasses, kränkliches Gras. Der Boden federte unter seinen Schritten, und jeder Tritt hinterließ eine gleichförmige flache Vertiefung, die sich rasch mit Wasser füllte. Eine bessere Spur konnten sich seine Verfolger nicht wünschen.
Kim überlegte einen Moment, zog dann seine Stiefel aus und ging barfuß weiter. Die Spur seiner bloßen Füße war viel weniger auffällig. Mit etwas Glück würden die Verfolger sie in der hereinbrechenden Dunkelheit übersehen.
Das Gelände wurde immer unwegsamer. Die Bäume rückten enger zusammen, und das dornige Gestrüpp war stellenweise so dicht, daß Kim sich nur mit Gewalt hindurchzwängen konnte. Das Krachen und Splittern der brechenden Zweige mußte kilometerweit zu hören sein. Kims Haut war binnen kurzem blutig und zerschunden. Seine Uniform hing in Fetzen.
Schließlich wurde das Dornengestrüpp undurchdringlich. Kim blieb stehen und sah sich unschlüssig um. Zur Linken schimmerte die Oberfläche eines kleinen Sees, im Halbkreis eingerahmt von der schwarzen Mauer des Waldes. Ein schmaler Pfad schien sich an seinem Ufer entlangzuschlängeln. Auf der anderen Seite der stillen Wasserfläche glaubte Kim eine Öffnung zwischen den Bäumen zu erkennen. Er änderte seine Richtung, kämpfte sich fluchend durch Gestrüpp und zähe, ineinander verflochtene Luftwurzeln und stand endlich am Wasser. Schwacher Modergeruch stieg ihm in die Nase.
Sein Blick wanderte nach Westen. Im bleichen Mondlicht war das Schattengebirge deutlich zu erkennen - eine gigantische schwarze Mauer, die die Welt wie ein unübersteigbares Kliff umschloß und bis zu den Sternen emporreichte. Der Himmel war wolkenlos, trotzdem konnte Kim die Gipfel nicht ausnehmen. Die Berge waren einfach zu hoch.
Der Gedanke, diese Berge übersteigen zu wollen, kam ihm mit einem Mal lächerlich vor.
Und doch mußte es einen Weg geben. Rebekka hatte ihn gefunden, und auch er würde ihn finden.
Kim umrundete den See und tauchte wieder in den Wald ein. Kein Lichtstrahl drang von oben durch die verfilzten Baumkronen. Nur vom See her sickerte ein Schimmer des reflektierten Mondlichts durch die Stämme, das ihn seine Umgebung mehr erahnen als wirklich erkennen ließ. Die Hände wie ein Blinder vorgestreckt, tastete er sich weiter. Er stieß gegen einen Baum, riß sich die Wange auf und fühlte etwas Weiches, Warmes und Schleimiges unter den Fingern. Etwas Dunkles, Haariges und unbeschreiblich Häßliches huschte mit leisem Quieken davon. Kim schauderte. Er war plötzlich ganz froh, seine Umgebung nicht in allen Einzelheiten erkennen zu können.
Der Pfad schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch und endete schließlich, wie ein Bach, der sich in einen größeren Fluß ergießt, auf einem breiten, von Gras und Moos überwucherten Waldweg. Kim zögerte einen Moment. Auf dem Weg würde er wesentlich schneller vorwärts kommen, aber er war dort vollkommen ungeschützt.
Kurz entschlossen trat Kim auf den Weg heraus, wandte sich nach Westen und marschierte los. Sein verletzter Arm schmerzte, aber das Gehen auf dem glatten, von zwei Reihen schnurgerader Wagenspuren durchzogenen Moos bereitete ihm keine Schwierigkeiten mehr.
Er war etwa zehn Minuten gelaufen, als er ein Geräusch hörte. Er blieb stehen, drehte sich um und strengte die Augen an.
Der schwarze Schatten hob sich kaum gegen den nachtdunklen Hintergrund des Waldes ab, und hätte nicht ein verirrter Lichtstrahl auf dem Metall des Panzers geglitzert, hätte Kim die Gefahr wahrscheinlich zu spät erkannt. Er warf sich zur Seite, brach rücksichtslos durch das dornige Gestrüpp und wälzte sich hinter einen Baum.
Der schwarze Reiter donnerte an ihm vorüber. Die fliegenden Pferdehufe schienen den Boden dicht neben ihm aufzureißen, und für einen schrecklichen Moment hatte Kim das Gefühl, direkt in die schwarzen Augen hinter der Gesichtsmaske zu blicken. Aber der Reiter jagte weiter, ohne sein Pferd im mindesten zu zügeln.
Kim atmete erleichtert auf. Das war knapp gewesen! Eine Sekunde zu spät reagiert, und der Riese hätte ihn geradewegs über den Haufen geritten.
Aber die Gefahr war keineswegs gebannt. Der Boden unter ihm schien plötzlich zu vibrieren. Dumpfes Trommeln kündigte das Nahen einer ganzen Reiterei an.