»Ihr... ihr wart im Krankenhaus, nicht?« fragte er.
Ein Schatten flog über das Gesicht seiner Mutter. Kim hatte mit einem Mal das Gefühl, etwas furchtbar Falsches gesagt zu haben.
»Setz dich, mein Sohn«, sagte sein Vater.
Kim sah seinen Vater durch eine Wolke blauen Zigarettenrauchs fragend an und setzte sich dann unsicher auf die Kante seines Sessels. Mein Sohn hatte er gesagt. So nannte er ihn nur, wenn er entweder sehr böse oder sehr gut aufgelegt oder sehr nervös war. Vater rief ihn selten beim Namen - normalerweise rief er ihn Knirps oder Kleiner, manchmal auch Junior oder Filius. Wenn er mein Sohn sagte, hatte das etwas Besonderes zu bedeuten.
»Ich...« Sein Vater zögerte einen Moment und fing dann von neuem an. »Mutter und ich müssen mit dir reden«, sagte er ernst.
Kim begann sich mit jeder Sekunde unbehaglicher zu fühlen. Er glaubte zu wissen, was sein Vater mit ihm besprechen wollte, aber er wollte es nicht hören. Er blickte ins Gesicht seiner Mutter und fühlte sich plötzlich noch elender. Ihr Gesicht war sehr blaß, und unter den Augen lagen dunkle Ringe. Sie sah ihn an, aber ihr Blick schien durch ihn und die Sessellehne hindurchzugehen und sich irgendwo in weiter Ferne zu verlieren. Sie lächelte ein seltsames, trauriges Lächeln, und ihm fiel auf, daß sich ihre Finger ununterbrochen bewegten.
»Ihr wart bei Becky, nicht?«
Vater nickte. Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und zeichnete mit dem Filter Linien in die weiße Asche.
»Ja, wir waren bei... deiner Schwester«, sagte er nach einer Weile. Er blickte Kim über den Rand seiner dünnen Goldbrille an und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Dann faltete er die Hände und legte das Kinn darauf - wie er es immer tat, wenn er nachdachte oder etwas Schwieriges erklären wollte.
»Deine Schwester... Rebekka«, setzte er aufs neue an, »ist sehr krank, Kim.«
Kim nickte. »Ich weiß«, sagte er. »Sie muß...«
Vater schüttelte sanft den Kopf. »Es ist nicht wegen des Blinddarms, Junge.«
»Nicht? Aber ihr sagtet doch...«
»Wir haben dir das erzählt, weil... weil wir dich nicht beunruhigen wollten.«
»Du meinst, es... es war gar nicht der Blinddarm...«
»Doch, doch, zunächst schon«, unterbrach ihn sein Vater hastig. »Es ist nur...« Er zündete sich schon wieder eine Zigarette an. »Ich weiß nicht... wir wissen nicht, wie wir es dir erklären sollen, Junge«, sagte er dann mit fester Stimme. »Du warst dabei, als wir deine Schwester in die Klinik gebracht haben, und... und du hast auch gehört, was Doktor Schreiber gesagt hat. Daß eine Blinddarmoperation heutzutage nichts Weltbewegendes mehr ist und daß wir uns keine Sorgen zu machen brauchen und daß Rebekka in einer Woche wieder hiersein würde.«
Kim nickte. Rebekka hatte vor drei Tagen plötzlich über stechende Seitenschmerzen geklagt und zu weinen angefangen. Sie hatten die Sache zuerst nicht besonders ernst genommen. Rebekka war im Mai vier geworden, aber wenn ihr etwas weh tat (oder wenn sie ihren Willen nicht bekam), gebärdete sie sich wie eine Zweijährige. Doch die Symptome waren immer schlimmer geworden, und schließlich, gegen Abend, hatte sie sich vor Schmerzen übergeben müssen, so daß Vater kurz entschlossen beim Roten Kreuz anrief und einen Krankenwagen kommen ließ. Sie waren mit in die Klinik gefahren, und es ging weit über Mitternacht, als sie wieder nach Hause kamen. Mutter schickte Kim ins Bett, aber er konnte nicht schlafen, und in dem großen stillen Haus hatte er gehört, wie seine Eltern noch lange unten im Wohnzimmer gesessen und geredet hatten.
Natürlich hatte Dr. Schreiber gesagt, daß kein Grund zur Aufregung bestand - Kim erinnerte sich gut an den kleinen dünnen, grauhaarigen Mann mit den traurigen Augen hinter der schwarzen Hornbrille. Aber rückblickend fiel ihm ein, daß es in den letzten Tagen eine Menge Aufregung gegeben hatte. Das Telefon hatte öfter als gewöhnlich geklingelt, und seine Mutter hatte - ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit - mit leiser Stimme gesprochen und hastig aufgelegt, wenn er ins Zimmer gekommen war. Ein kleines, bohrendes Gefühl der Angst machte sich in Kims Magen bemerkbar, ähnlich dem Gefühl, wenn er mit einer schlechten Note nach Hause kam, und doch wieder ganz anders.
»Es hat Komplikationen gegeben«, fuhr Vater leise fort. »So etwas kommt vor, wenn auch sehr selten. Doktor Schreiber hat es Mutter und mir erklärt, aber...« Vaters Stimme schwankte, und Kim meinte Tränen in seinen Augen glitzern zu sehen. Doch dann blinzelte er, sog an seiner Zigarette und verbarg sich wieder hinter einer dichten Qualmwolke.
Plötzlich geschah etwas Seltsames. Vater erhob sich mit einem Ruck, stand einen Moment regungslos da und ballte die Fäuste. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, schüttelte dann den Kopf und wandte sich mit einer raschen Drehung ab.
»Sag du's ihm«, murmelte er. »Ich kann es nicht.«
Kims Blick wanderte zwischen dem Rücken seines Vaters und dem Gesicht seiner Mutter hin und her.
»Was... was ist mit Becky?« fragte er angstvoll.
»Sie ist... man hat sie... ganz normal... in Narkose versetzt, ehe sie operiert wurde«, erklärte Mutter tonlos. »Aber sie ist nicht wieder aufgewacht.«
Kims Herz schien einen schmerzhaften Schlag zu überspringen. Seine Hände begannen zu zittern, und in seinem Hals saß ein würgender Kloß.
»Ist sie... tot?« fragte er.
Mutter starrte ihn einen Moment lang entsetzt an, dann schlug sie die Hände vors Gesicht und schluchzte.
»Nein, Junge.« Sein Vater setzte sich wieder. In seinen Augen glänzten jetzt wirklich Tränen. »Sie ist nicht tot, Kim. Sie ist nur nicht wieder aufgewacht. Sie haben sie aus dem Operationssaal gebracht und ins Bett gelegt und darauf gewartet, daß sie aufwacht, aber sie ist nicht aufgewacht. Sie schläft einfach weiter.«
»Und wie lange...«
»Zwei Tage«, murmelte Vater. »Seit sie operiert worden ist. Wir haben dir nichts gesagt, weil wir gehofft haben, daß noch alles gut wird, aber ich habe vorhin mit der Klinik telefoniert, und...« Kim spürte, wie schwer es ihm fiel weiterzusprechen, »und es sieht nicht so aus, als würde sich an ihrem Zustand etwas ändern.«
»Du meinst, sie wird überhaupt nie wieder aufwachen?« sagte Kim. Die Vorstellung, daß jemand einschlief und einfach nicht wieder erwachte, war ungeheuerlich. So etwas kam nur in Märchen vor. Das waren Geschichten, wie man sie kleinen Kindern erzählte, aber doch nichts, was wirklich geschah! Trotz wallte in ihm auf und war für einen Moment sogar stärker als seine Angst. Er wollte nicht, daß so etwas passierte, keinem Menschen, und schon gar nicht seiner Schwester.
»Mutter und ich fahren jetzt ins Krankenhaus«, sagte Vater nach einer Weile. »Doktor Schreiber möchte uns sprechen.«
»Ich komme mit«, sagte Kim.
Vater schüttelte bedauernd den Kopf. »Das wird nicht gehen, Kim«, sagte er. »Du weißt doch, daß Kinder unter vierzehn Jahren dort nicht hineindürfen.«
»Dann warte ich auf dem Flur«, beharrte Kim. »Ich will wissen, wie es Rebekka geht. Ich möchte sie sehen.«
Sein Vater wollte etwas sagen, aber Mutter legte ihm die Hand auf den Arm. »Laß ihn.«
Ohne Vaters Antwort abzuwarten, sprang Kim von der Sesselkante, lief aus dem Wohnzimmer und rannte - immer drei Stufen auf einmal nehmend - die Treppe hinauf. Als seine Eltern sich zum Weggehen fertigmachten, war er schon wieder zurück, einen zerknautschten, fleckigen Teddybären, dem das rechte Ohr und ein Glasauge fehlten, im Arm. Rebekkas Lieblingsspielzeug. Seine Mutter zuckte zusammen, als sie den Bären sah, wandte sich ab und begann wieder zu weinen. Plötzlich fiel ihm ein, wie sinnlos es war, das Spielzeug mitzunehmen. Er drehte den Plüschbären hilflos zwischen den Fingern und sah sich nach einem Platz um, wohin er ihn legen konnte.
»Laß nur, Junge«, murmelte sein Vater. »Nimm ihn ruhig mit.«