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Kim hob vorsichtig den Kopf.

Fünf, sieben - ein Dutzend oder mehr schwarze, stahlgepanzerte Reiter galoppierten auf dem Weg daher. Offensichtlich war jener erste Reiter ein Kundschafter gewesen, dem jetzt der Haupttrupp folgte. Kim stellte fest, daß sich diese Abteilung längst nicht so rasch bewegte wie der Vorreiter. Auch sie galoppierten in strengem Tempo, aber sie zügelten immer wieder ihre Pferde, starrten aufmerksam rechts und links des Weges in den Wald und stocherten mit den sichelförmigen Spitzen ihrer Speere ins Gebüsch.

Sie suchen mich! dachte Kim. Boraas hatte endlich die richtigen Schlüsse gezogen und wahrscheinlich seine ganze Armee losgeschickt, um die Wälder und Sümpfe rings um Morgon durchsuchen zu lassen.

Er richtete sich vorsichtig auf Hände und Knie auf und kroch rückwärts in den Wald hinein.

Eine Hand berührte seinen Fuß, zuckte erschrocken zurück und klammerte sich dann fest um sein Gelenk.

Kim erstarrte.

»Keinen Laut!« zischte eine Stimme hinter ihm. »Die schwarzen Teufel haben Ohren wie die Luchse. Wenn du nur einen Mucks machst, haben sie uns!«

Die Hand löste sich von seinem Fußgelenk, und jemand zog ihn unsanft auf die Füße. Kim hatte einen flüchtigen Eindruck von einer schmalen Gestalt, strähnigem Haar und dunklen, aufmerksamen Augen, in denen es halb spöttisch, halb angstvoll aufblitzte.

»Komm jetzt! Schnell!«

Sein Retter ergriff seine Hand und begann geduckt zwischen den Bäumen hindurchzurennen; Kim mußte sich seinem Tempo anpassen, ob er wollte oder nicht. Sie drangen immer tiefer in den Wald ein, und Kim begann sich zu fragen, wie sein Führer überhaupt noch etwas sehen konnte. Es war so finster, daß er die Gestalt vor sich nur als lichten Schatten wahrnahm, der ihn mit traumwandlerischer Sicherheit hinter sich herzog.

Schließlich schimmerte es vor ihnen hell durch die Bäume. Nach wenigen Schritten standen sie am Ufer eines kleinen, nierenförmigen Sees. Ein Schwarm Libellen tanzte im Mondlicht über der Wasseroberfläche und stob auseinander, als Kim und sein Führer aus dem Wald brachen.

Kim ließ dessen Hand los und rang keuchend nach Atem. Der kurze Lauf hatte ihn vollkommen erschöpft. Er wollte ein Wort des Dankes sagen, verschluckte sich und hustete schmerzhaft.

»Bist nicht gut in Form, wie?«

»Doch«, stieß Kim zwischen Keuchen und Husten hervor. »Es ist nur...« Er grinste. »Stimmt«, sagte er. »Ich bin nicht gut in Form. Aber das ist eine lange Geschichte.«

Jetzt endlich hatte er Gelegenheit, seinen geheimnisvollen Retter genauer zu betrachten. Der Bursche war kaum größer als er selbst. Langes Haar hing in nassen Strähnen bis über seine Schultern herab, und seine Haut schien im silbernen Licht des Mondes unnatürlich blaß und farblos. Ein zerschlissenes, sackähnliches Gewand umhüllte seine schmale Gestalt und ließ nur Arme und Füße frei. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war ernst, doch nicht unfreundlich.

»Was starrst du mich so an?« fragte er. »Hast du noch nie einen anderen Jungen gesehen?«

»Doch«, antwortete Kim stockend. »Aber noch nie so einen wie dich, wenn ich ehrlich sein soll.«

»Danke gleichfalls. Du hast eine reizende Art, dich dafür zu bedanken, daß ich dir das Leben gerettet habe.«

»Aber nein... ich meine ja«, antwortete Kim. »Es ist nur... es war alles ein bißchen viel, und...«

»Erzähl es mir später«, unterbrach ihn der andere. »Wir müssen weiter.« Er deutete hastig auf den Wald hinter Kims Rücken. »Die schwarzen Teufel sind nicht dumm. Wenn sie herausfinden, daß ich dich gerettet habe...« Er fuhr sich mit einer bezeichnenden Geste über den Hals. Kim hatte für einen Moment den Eindruck, zwischen seinen Fingern dünne, durchscheinende Schwimmhäute zu erkennen.

»Trotzdem«, sagte Kim mit Nachdruck. »Ich danke dir. Ohne dich säße ich jetzt wahrscheinlich schon wieder in Boraas' Kerker. Mein Name ist übrigens Kim.«

»Ich heiße Adomat«, sagte sein Lebensretter. »Aber meine Freunde nennen mich kurz Ado. Hört sich auch nicht so geschwollen an. Und jetzt komm. Wir müssen wirklich weiter.« Er drehte sich um und verschwand mit schnellen Schritten im Dickicht, so daß Kim ihm nur mit Mühe folgen konnte.

Sie liefen eine Viertelstunde lang kreuz und quer durch den Wald. Kim verlor schon nach wenigen Schritten die Orientierung, aber immerhin merkte er, daß sie sich in westlicher Richtung bewegten. Sie durchwateten einen schlammigen Bach, gingen ein Stück am Ufer entlang und erreichten schließlich wieder einen See. Ado bedeutete Kim stumm, stehenzubleiben, machte sich eine Zeitlang an einem Busch zu schaffen und wies dann mit einer einladenden Geste auf einen runden, finsteren Schacht, der darunter zum Vorschein gekommen war.

»Wir sind da.«

Kim spähte in die Tiefe. Eine Reihe breiter, ausgetretener Lehmstufen führten ins Dunkel hinab.

»Dort hinunter?« fragte er zweifelnd.

Ado nickte. »Was Besseres kann ich dir leider nicht bieten. Aber wenn dir Burg Morgon lieber ist...« Er zuckte die Achseln, musterte Kim mit einem spöttischen Blick - und war weg.

Kim beeilte sich, ihm zu folgen. Die Treppe führte ein paar Meter gerade hinab, machte dann einen scharfen Knick nach rechts und endete in einer unterirdischen Höhle. Ado hantierte eine Weile im Dunkeln herum und entzündete schließlich eine Fackel.

Kim blinzelte in das plötzliche, grelle Licht.

»Setz dich«, sagte Ado. »Du mußt müde sein. Ich will sehen, ob ich etwas zu essen für dich finde.« Er deutete auf einen niedrigen Tisch, um den sich eine Anzahl schmaler Schemel gruppierte, und verschwand dann in einem angrenzenden Raum. Kim hörte ihn mit Töpfen und Geschirr klappern. Er setzte sich, stützte die Ellbogen auf der Tischplatte auf und sah sich neugierig um. Viel gab es nicht zu entdecken. Die Höhle war vielleicht zehn, zwölf Meter groß. Wände, Decke und Fußboden bestanden aus Lehm, der von dunklen Wurzelsträngen durchzogen war. Außer dem Tisch, an dem er saß, gab es noch eine schwere eisenbeschlagene Truhe und drei niedrige, nicht sehr bequem aussehende Betten.

Ados Rückkehr unterbrach seine Betrachtungen. Kim griff dankbar nach der Schale mit kalter Suppe und dem feuchten Brot und schlang beides gierig in sich hinein. Ado betrachtete ihn belustigt, schwieg jedoch höflich, bis Kim fertig war und den letzten Brotkrümel vom Tisch auflas.

»Du mußt ganz schön hungrig gewesen sein«, sagte er.

»Das kann man wohl sagen«, grinste Kim. Er lehnte sich zurück, soweit das auf dem unbequemen Hocker möglich war, und fragte: »Warum hast du mir geholfen?«

Ado zögerte einen Moment. Er trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte, und Kim sah nun, daß er sich nicht getäuscht hatte. Zwischen Ados Fingern spannten sich tatsächlich hauchfeine, durchscheinende Schwimmhäute.

Jetzt, wo er Ado genauer betrachtete, fielen ihm noch mehr Besonderheiten auf. Ados Haut war hell, fast weiß, und je nachdem, wie das Licht darauf fiel, schimmerten helle Schuppen auf ihr. Seine Augenlider waren durchsichtig wie die von Fischen, und sein Haar war kein Haar, sondern etwas, was man vielleicht als feinen Tang bezeichnen konnte. Er hatte keine Fingernägel, und an seinem Hals befanden sich zwei Reihen dünner, parallel verlaufender Narben, als wären dort früher einmal Kiemen gewesen.

Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er Ado anstarrte. Er senkte betreten den Blick.

Ado grinste. »Ich komme dir wohl komisch vor, wie?« Er lachte leise und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Dann warte erst mal, bis du meinen Vater siehst.«

»Deinen Vater?«

Ado nickte. »Glaubst du, daß ich allein hier wohne?« fragte er.

»Wo sind deine Eltern?«

»Ausgegangen«, erwiderte Ado ausweichend. »Vater ist nachts nie hier. Er kommt erst gegen Morgen, wenn die Sonne aufgeht. Ich übrigens normalerweise auch. Wir schlafen tagsüber, weißt du. Wenn das nicht so wäre, hätte ich dich kaum retten können.«