Выбрать главу

Kim rieb sich die Augen und schnupperte.

»Du hast richtig geraten«, grinste Ado. »Das Essen ist fertig. Außerdem ist es höchste Zeit zum Aufstehen.«

»Wirklich?« fragte Kim, während er unwillig nach seinen Sachen angelte. Jemand hatte sie säuberlich zusammengefaltet und über einen Schemel neben dem Bett gelegt. Sogar der Riß im rechten Jackenärmel war geflickt. »Wie spät ist es denn?«

»Sehr spät«, antwortete Ado, »oder sehr früh - kommt drauf an, von welchem Standpunkt man es betrachtet. Du hast fast den ganzen Tag verschlafen. Die Sonne geht schon bald wieder unter.«

Kim war mit einem Satz aus dem Bett. Er fühlte sich ausgeruht und bereit für neue Taten.

»Dann... muß ich jetzt wohl verschwinden«, sagte er.

Ado schüttelte den Kopf. »I wo. Zuerst einmal wird gegessen. Und dann zeige ich dir unser Reich. Wir haben sehr selten jemanden zu Besuch, weißt du. Um ehrlich zu sein«, fügte er betrübt hinzu, »so gut wie nie.«

»Euer Reich? Hast du Reich gesagt?«

»Ja. Mein Vater hat keinen Witz gemacht. Er ist wirklich König.«

Kim grinste. »Dann bist du wohl ein richtiger Prinz, wie?« Er merkte sofort, daß er etwas Dummes gesagt hatte. In Ados Augen blitzte es zornig, und seine Stimme klang um eine Spur schärfer, als er antwortete. »Das bin ich allerdings, Kim. Vielleicht sehe ich nicht so aus, und vielleicht sieht Vater auch nicht so aus, wie man sich bei euch einen König vorstellt. Aber er ist ja auch nur ein Tümpelkönig.«

»Entschuldige«, sagte Kim, »ich...«

»Schon gut.« Ado schniefte und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. Er sah Kim aus seinen großen, fischähnlichen Augen an und zog eine Grimasse. »Du konntest es nicht wissen. Komm jetzt. Das Essen wird kalt.«

Sie gingen zum Tisch. Ado hatte Teller und hölzernes Besteck hergerichtet. Es gab reichlich gebratenen Fisch, dazu einen unappetitlich aussehenden, aber köstlich schmeckenden Brei und ein heißes Getränk, das wie Tee aussah, wie Kaffee roch und nach Kakao schmeckte. Kim aß mit großem Appetit, und Ado konnte über die Mengen, die er verdrückte, nur staunen. Aber schließlich hatte Kim mehr als eine halbe Woche von Wasser und Brot gelebt, und die Mahlzeit vom vergangenen Abend hatte gerade gereicht, den ärgsten Hunger zu stillen.

»Vorhin war ein Schwarzer hier«, sagte Ado nach einer Weile.

Kim war so erschrocken, daß ihm buchstäblich der Bissen im Hals steckenblieb.

»Hier?« fragte er, als wollte er es nicht glauben.

Ado nickte. »Ja. Er hat nach dir gefragt. Nicht direkt, aber er hat gefragt, ob wir jemanden gesehen haben, und er kann nur dich gemeint haben. Das ganze Land scheint in Aufruhr zu sein - deinetwegen.« Er brach ein Stück Brot ab, biß hinein und kicherte. »Vater sagt, er habe selten einen Schwarzen so aufgeregt gesehen. Boraas muß ja völlig außer sich sein. Jedenfalls wissen wir jetzt, daß du die Wahrheit gesagt hast.«

Kim nickte. »Ihr habt mir nicht geglaubt.«

»Nein«, sagte Ado ruhig. »Weißt du denn nicht, daß noch nie irgend jemand aus Morgon entkommen ist?«

»Doch.« Kim nickte wieder. Gestern war er viel zu erschöpft gewesen, um über alles nachzudenken. Aber jetzt erschien ihm seine Flucht selbst unglaublich. »Vielleicht hat er mich unterschätzt«, fügte er ohne rechte Überzeugung hinzu.

Ado antwortete nicht darauf.

Sie aßen schweigend zu Ende. Dann räumte Ado das Geschirr fort, vergewisserte sich, daß das Feuer heruntergebrannt war, und ging zum Ausgang. Kim folgte ihm.

Ado hatte nicht übertrieben. Der Tag neigte sich bereits dem Abend zu, aber die Sonne stand noch eine gute Handbreit über den Baumwipfeln; es würde noch eine Stunde oder länger dauern, ehe sie unterging. Der Wald wirkte jetzt, bei Tageslicht, nicht mehr so unheimlich wie in der vergangenen Nacht. Die stille Oberfläche des Sees schimmerte in der Nachmittagssonne wie geschmolzenes Gold, und zwischen den graugrünen Bäumen lugten sogar vereinzelte, blasse Blumen hervor.

Kim ging die paar Schritte bis zum See und hockte sich am Ufer nieder. Ado streifte sein Gewand ab und sprang in einem eleganten Bogen ins Wasser. Luftblasen sprudelten empor, und für einen Moment war sein Körper wie der Leib eines riesigen silbernen Fisches im klaren Wasser zu sehen. Dann war er verschwunden.

Er blieb sehr lange unter Wasser und tauchte schließlich weit drüben auf der anderen Seite des Sees wieder auf. Kim hätte nie im Leben so weit tauchen können, ohne dazwischen Luft zu holen.

Kim wurde nicht müde, Ado zu beobachten. Er schoß dahin wie ein Pfeil, tauchte unter, schnellte sich im hohen Bogen empor und schlug Purzelbäume in der Luft, daß es Kim fast den Atem verschlug. Er begriff plötzlich, daß dies Ados wahres Element war.

Schließlich schwamm Ado mit einigen kräftigen Zügen zum Ufer, stieg heraus und schlüpfte in sein Kleid. Das Haar hing ihm naß bis auf den Rücken hinunter.

»Das hat gutgetan«, sagte er. Sein Atem ging so ruhig, als käme er von einem gemütlichen Spaziergang zurück. »Ich bade selten des Tages, weißt du. Und was ist mit dir?«

Kim streckte vorsichtig den großen Zeh ins Wasser und schüttelte sich. Es war eisig. »Nein danke«, sagte er.

»Schwimmen die Leute dort, wo du herkommst, nicht?« fragte Ado.

»Doch. Aber nicht bei dieser Kälte. Und längst nicht so gut wie du. Außerdem gibt es bei uns nicht viele so schöne Plätze wie diesen.«

Ado hockte sich neben Kim, zupfte einen Grashalm ab und strich sich damit über die Nase.

»Schön?« sagte er. »Hier ist es nicht schön.«

Kim sah ihn verwirrt an. »Mir gefällt es hier«, sagte er. »Ich...«

»Es ist nicht schön«, beharrte Ado. »Es ist schon angekränkelt. Du kannst es noch nicht sehen, aber ich kenne die Anzeichen genau. Das Wasser verfault langsam, aber sicher, und der Wald stirbt jeden Tag ein Stückchen mehr. Der Regen verbrennt den Boden, und was er übrigläßt, wird vom Nebel erstickt.« Er spuckte aus, buddelte mit den Fingern im Ufersand und warf eine Handvoll ins Wasser. »Früher einmal war es hier schön«, fuhr er nach einer Weile leise fort. »Ehe Boraas kam.«

Kim wurde hellhörig. »Ehe Boraas kam?« fragte er. »Soll das vielleicht heißen, daß Boraas nicht immer hier geherrscht hat?«

Ado schüttelte den Kopf. »Nein. Boraas hat dir sein Reich gezeigt, nicht?«

Kim nickte. Er hatte vom höchsten Turm Morgons einen Blick auf dieses graue, geduckte Land geworfen, und die Erinnerung daran saß ihm noch immer wie ein kalter Schreck in den Knochen.

»Dieses Land war nicht immer so«, fuhr Ado fort. »Früher war hier alles anders. Das Wasser war sauber und klar, und in den Wäldern lebten Tiere und Elfen. Man konnte nachts Spazierengehen, ohne Angst haben zu müssen. Und es gab keine Schwarzen. Auch die Burg Morgon gab es nicht. Und mein Vater...« Er brach ab und ballte die Fäuste.

»Dein Vater war nicht immer Tümpelkönig, nicht wahr?«

»Nein. Er war ein schöner, strahlender Seekönig, und Mutter war eine wunderschöne Seekönigin. Sie und all ihre Brüder und Schwestern lebten glücklich und in Frieden. Sie alle waren Könige, und doch waren sie es nicht.«

»Das verstehe ich nicht.«

Ado lächelte. »Ich bin der letzte aus dem Geschlecht der Seekönige«, erklärte er. »Nach mir wird es keine mehr geben. Aber früher gab es viele. Jeder von ihnen war ein König, doch es gab niemanden, der beherrscht wurde, weil alle anderen auch Könige waren.« Seine Stimme wurde bitter. »Aber dann kam Boraas, und alles wurde anders. Die Wälder verdarben, die Seen trockneten aus und wurden zu schlammigen Tümpeln, und wer nicht vor Boraas und seinen schwarzen Reitern geflohen war, verschwand früher oder später in seinen Kerkern.« Er schluckte, und in dem Netz von Wassertröpfchen auf seinem Gesicht fingen sich Tränen. »Aber es wird wieder so werden, wie es einmal war«, schloß er leise.