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Vater lächelte traurig.

»Und dies ist einer von... diesen Fällen?«

Dr. Schreiber nickte. »Ich fürchte, ja. Wir wissen nicht, wie lange es dauert. Manchmal wacht der Patient nach einer Weile von selbst auf, und in ganz seltenen Fällen gelingt es uns sogar, ihn sozusagen zurückzuholen. Aber wir wissen nicht wie, und wir wissen auch nicht wann.«

Oder ob überhaupt, fügte Kim in Gedanken hinzu. Er war sicher, daß Dr. Schreiber das gleiche dachte. Der Arzt redete weiter, aber Kim hörte nicht mehr hin. Leise trat er neben seine Mutter und blickte auf die reglose Gestalt in dem viel zu großen weißen Bett.

Rebekkas Gesicht wirkte in dem frisch ausgeschüttelten Kissen unglaublich klein und verloren. Dünne, bunte Drähte schlängelten sich unter der Bettdecke hervor zu den blinkenden Automaten an der Wand. An einem chromblitzenden Gestell neben dem Bett hing eine Tropfflasche, von der ein gelber Kunststoffschlauch zu ihrem Arm führte, und ihr Gesicht war fast völlig unter einer durchscheinenden Atemmaske verborgen, die sich, wie die Sauerstoffmaske eines Jagdfliegers, über Mund und Nase schmiegte und nur die geschlossenen Augen freiließ.

Kim schluckte. Der bittere Kloß in seinem Hals war wieder da, und in seinem Magen breitete sich ein flaues Gefühl aus. Er legte den Plüschteddy auf das Bett, dorthin, wo sich unter der Decke Rebekkas rechter Arm abzeichnete, und trat dann schnell zurück. Er schloß die Augen, aber das nutzte nichts. Er sah noch immer dieses kleine, verlorene Gesicht in der riesigen weißen Wüste des Bettes.

Er merkte erst, daß er weinte, als ihm eine Hand zärtlich über das Gesicht fuhr und die Tränen wegwischte.

Er blickte ins Gesicht seiner Mutter. Sie weinte nicht mehr. Ihre Augen waren trocken, aber der Ausdruck darin ließ ihn schaudern.

Vater redete noch eine Weile mit dem Arzt. Dr. Schreiber antwortete geduldig auf alle Fragen und unterstrich seine Worte mit erklärenden Gesten. Kim fiel auf, daß er ungewöhnlich schlanke Hände hatte, auf denen die Adern, blau und deutlich, wie dünne Wurzeln hervorstanden und die sich schnell und fast wie zwei selbständige Wesen bewegten. Die Besucher verließen das Zimmer und traten wieder auf den gelben Flur mit seinen gleichförmigen Türen und dem Krankenhausgeruch hinaus. Ein alter Mann in einem blauen Besucherkittel kam ihnen entgegen, blieb einen Moment stehen und blickte Kim freundlich lächelnd an.

Es war ein sehr seltsamer Mann, fand Kim. Er war alt - sehr alt -, und er sah genauso aus, wie Kim sich immer einen wirklich alten Mann vorgestellt hatte. Er ging gebeugt, die rechte Hand leicht vorgestreckt, als wäre er es gewohnt, dort normalerweise einen Stock oder Stab zu halten. Obwohl er kleiner als Vater war, hatte er sehr breite Schultern; er mußte früher sehr groß und kräftig gewesen sein. Sein langes weißes Haar fiel fast bis auf die Schultern herab, und er trug einen weißen, sorgsam geschnittenen Bart, der vom Kinn bis zum obersten Knopf seines Kittels reichte. Sein Gesicht war von unzähligen Runzeln und Falten durchzogen, die sich um seine Augen zu einem dichten Netzwerk feiner Linien versponnen, und auf der Stirn waren drei tiefe senkrechte Falten eingegraben.

Der alte Mann lächelte wieder, wiegte den Kopf und schlurfte an ihnen vorüber. Kim widerstand der Versuchung, sich umzudrehen und ihm nachzustarren. Wahrscheinlich ein Großvater, der gekommen war, um seinen kranken Enkel in der Klinik zu besuchen.

Der Gedanke gefiel Kim. Er hätte gern einen solchen Großvater gehabt. Seine Großeltern waren gestorben, als er noch ganz klein war, und er hatte nie erfahren, wie es war, einen Opa zu haben. Aber wenn er einen hätte, müßte er genau wie dieser aussehen.

Dr. Schreiber begleitete sie noch durch die Glastür und ein Stück den Gang hinunter, ehe er sich mit einem flüchtigen Händedruck verabschiedete und hinter einer der gleichförmigen Türen verschwand.

Der Regen hatte aufgehört, als sie das Klinikgebäude verließen. Schweigend gingen sie über den gewundenen, von Blumenrabatten und gepflegten Rasenflächen gesäumten Weg zum Haupteingang zurück. Der weiße Torbogen war jetzt menschenleer und machte einen trostlosen, verlassenen Eindruck. Auf dem ausgefahrenen Asphalt schimmerten ölige Pfützen, und von den Wänden blätterte der Verputz in großen, unregelmäßigen Flecken ab. Wenn man lange genug hinsah, konnte man in den schadhaften Stellen ein Muster erkennen - eine dünne, gewundene Linie, die sich diagonal über die Wand zog und vorne, beim Ausgang, zu einer vielfingrigen bizarren Hand wurde, einwärts gekrümmt und mit langen, spitzen Fingernägeln.

Vater blieb stehen, kramte den Autoschlüssel aus der Tasche und steckte ihn dann wieder ein.

»Trinken wir eine Tasse Kaffee«, sagte er. »Ich habe Durst.« Mutter hakte sich wortlos bei ihm unter. Sie gingen weiter bis zum Zebrastreifen und überquerten die Straße.

Kim atmete auf, als sie das Klinikgebäude hinter sich ließen. Er hatte das Gefühl, plötzlich einem Gefängnis entronnen zu sein. Einem Gefängnis mit unsichtbaren, unübersteigbaren Mauern. Er blieb mitten auf dem Zebrastreifen stehen, drehte sich um und betrachtete den Eingang, der in der grauen, regenschweren Luft wie das gierig aufgerissene Maul eines lauernden Ungeheuers aussah oder wie der Eingang zu einem tiefen, bodenlosen Kerker, ein Verlies ohne Ausgang, ohne Licht und Luft und ohne Hoffnung für die, die einmal darin gefangen waren.

Kim schauderte. Er wandte sich ab und beeilte sich, hinter seinen Eltern herzulaufen.

II

Das Cafe war groß und hell. Auf den Tischen in dem weitläufigen Raum brannten unzählige kleine Lampen. Es duftete nach Kuchen und frisch aufgebrühtem Kaffee. Kellnerinnen in schwarzen Kleidern und kleinen, spitzenbesetzten Schürzen eilten geschäftig hin und her.

Vater deutete auf einen freien Tisch am Fenster. Sie setzten sich. Vater zündete sich eine Zigarette an, hustete hinter vorgehaltener Hand und stützte die Arme auf der Tischplatte auf. Sein Gesicht wirkte müde, und als die Kellnerin kam, mußte sie ihn zweimal nach seinen Wünschen fragen, ehe er aufschreckte und Kaffee und für Kim ein Glas Cola bestellte.

»Wir sollten deine Schwester anrufen«, sagte Vater, zu Mutter gewandt. »Vielleicht kann sie für ein paar Tage zu uns kommen. Es wäre besser, wenn du jetzt nicht soviel allein bist.«

»Du meinst Tante Birgit?« fragte Kim.

Vater nickte. »Ich bin sicher, sie kommt, wenn sie hört, was... was passiert ist.«

»Warum nimmst du dir nicht ein paar Tage frei?« sagte Mutter. »Das geht doch, oder? Dein Büro wird nicht zusammenbrechen, wenn du eine Woche fehlst.«

Vater lächelte flüchtig. »Natürlich nicht. Aber ich habe im Moment viel zu tun.« Er seufzte. »Ich glaube nicht, daß ich dir eine große Hilfe wäre«, fügte er hinzu. »Außerdem lenkt mich die Arbeit ab.« Er lehnte sich zurück und streckte die Beine unter dem Tisch aus. »Ich werde mir noch oft genug freinehmen müssen, um in die Klinik zu fahren«, sagte er.

Die Kellnerin kam mit der Kanne Kaffee und einem Glas Cola. Kim war froh, daß sein Vater schwieg, während sie servierte. Vater hatte manchmal eine so kalte, sachliche Art, daß man sich grausam zurückgestoßen fühlte. Mutter hatte sich schon oft darüber beklagt, aber meist verstand er das gar nicht oder wollte es nicht verstehen. Jetzt verstand er es. Er meinte es freilich nicht böse und war auch nicht gefühllos. Es war eben seine Art, und die Familie hatte sich damit abgefunden, auch wenn er Außenstehende manchmal schockierte.

Kim nippte an seinem Cola und drückte sich tiefer in die Polsterbank. Er fröstelte. Das Cafe war behaglich geheizt, aber Kims Schuhe und Strümpfe waren naß, und er mußte sich beherrschen, um nicht mit den Zähnen zu klappern. Er trank noch einen Schluck, stellte das Glas vorsichtig auf den feuchten Ring auf der Tischplatte zurück und schaute aus dem Fenster. Der Himmel war noch bedeckt, aber der Regen hatte endgültig aufgehört, und es waren wieder Menschen und viel mehr Autos als zuvor auf der Straße. Die hellen Lampen, die auf den Tischen brannten, spiegelten sich in der Scheibe, und wenn Kim genau hinsah, konnte er auch sein eigenes und das Spiegelbild seiner Eltern sowie das der anderen Gäste erkennen, als säße er vor einem deckenhohen Spiegel, der auf sonderbare Weise durchsichtig geworden war und ihm einen Blick in eine andere, phantastische Welt gewährte. Für einen kurzen Moment erschien ihm das Bild dort draußen so fremd, als wäre die Straße keine Straße, sondern ein bizarrer Pfad durch einen exotischen Betondschungel, die Menschen keine Menschen, sondern fremdartige Zauberwesen, und die Häuser auf der anderen Straßenseite hohe, zinnenbewehrte Burgen, hinter deren Mauern sich finstere Geheimnisse verbargen. Dann verschwand das Gefühl, und er blickte wieder auf eine ganz gewöhnliche Straße an einem grauen, unfreundlichen Herbstnachmittag hinaus. Ein alter Mann humpelte mit schlurfenden Schritten vorüber, blieb stehen und kam dann wieder zurück, um durch die beschlagene Scheibe ins Innere des Cafes zu spähen.