Kim hielt ängstlich nach Harkvan Ausschau, konnte ihn aber auf keinem der Flöße entdecken. Rechts und links von ihm sprangen jetzt Männer ins Wasser, kraulten mit schnellen Zügen zu den Flößen hinaus und griffen nach den Seilen, die ihnen zugeworfen wurden.
Dann endlich legte das erste Floß an der niedrigen Kaimauer an. Hunderte Hände streckten sich den erschöpften Steppenreitern entgegen, um ihnen an Land zu helfen. Nicht alle konnten aus eigener Kraft gehen. Viele mußten gestützt oder getragen werden, und so mancher von denen, die das Ufer ohne fremde Hilfe erklommen, brach dort zusammen, als hätte er seine letzte Energie für diesen einen rettenden Schritt aufgespart.
Der Platz am Ufer wurde eng. Themistokles gab verschiedene Anweisungen, worauf die Menge auseinanderwich und die Flüchtlinge in einer langen, traurigen Reihe ins Innere Gorywynns geführt wurden, wo ihnen weitere Hilfe zuteil werden sollte.
»Da ist Priwinn!« rief Gorg.
Kim reckte sich auf die Zehenspitzen, um über die Köpfe der Menge hinwegsehen zu können. Der junge Steppenprinz war totenblaß. Ein blutiger, gezackter Kratzer lief über seine Wange bis zur Nasenwurzel hinauf, und um seine rechte Hand war ein schmuddeliger Verband gewickelt. Er wankte, und hätte ihn die Menge nicht einfach mit sich getragen, wäre er sicher gestürzt.
Themistokles entdeckte den Prinzen im gleichen Augenblick. Er schwang seinen Stab, scheuchte Männer und Frauen beiseite und eilte Priwinn entgegen. Kim, Kelhim und Gorg bahnten sich ebenfalls eine Schneise. Sie kamen gerade noch rechtzeitig, um Priwinn vor dem Zusammenbrechen zu bewahren. Gorg fing ihn mit einer seiner mächtigen Pranken auf.
Themistokles beugte sich besorgt zu dem Prinzen herunter.
»Prinz Priwinn!« sagte er mit mühsam beherrschter Stimme. »Ihr lebt! Den Göttern sei Dank! Wo ist Euer Vater? Und was ist geschehen?«
Priwinn schob Gorgs Hand beiseite. Er schwankte und ließ sich mit einem Seufzer der Erschöpfung zu Boden sinken.
»Verloren!« stieß er hervor. »Wir haben... verloren. Caivallon... ist gefallen.«
»Gefallen!« rief Themistokles erschüttert. »Aber wie...?«
»Die... schwarzen Reiter«, berichtete Priwinn. »Nach Eurer Abreise berieten wir weiter. Es hat lange gedauert, und die Nacht wich dem Tag, bevor wir uns zu einer Entscheidung durchgerungen hatten. Wir beschlossen, Caivallon zu halten. Auf Drängen meines Vaters hin räumte der Rat jedoch ein, tausend unserer besten Reiter nach Gorywynn zu senden. Niemand sollte uns nachsagen, Caivallon ließe seine Freunde in der Stunde der Not im Stich.«
»Unsinn«, sagte Themistokles. »Ich käme nie auf diesen Gedanken. Aber was geschah weiter? Diese tausend Reiter...«
»Kamen niemals an, ich weiß«, sagte Priwinn. »Sie stießen auf Boraas' Armee, nur eine Tagereise entfernt. Und schon am nächsten Morgen begann der Angriff auf Caivallon.« Er schüttelte sich, als ihn die Erinnerung überfiel. »Der Kampf war fürchterlich«, fuhr er mit monotoner Stimme fort. »Unsere Männer kämpften tapfer, und nicht viele der schwarzen Reiter kamen dazu, sich über ihren Sieg zu freuen. Aber es waren zu viele. Die Wälle fielen, und wir mußten fliehen.«
»Aber all die Bewohner Caivallons...«
Priwinn schüttelte den Kopf. »Die, die uns begleiten, sind die letzten«, sagte er. »Die anderen sind tot oder in alle Winde versprengt. Caivallon brannte, als wir flohen. Die Steppenfestung ist zerstört, Themistokles. Ihr hattet recht. Wir hätten auf Euch hören und nach Gorywynn fliehen sollen, bevor es zu spät war.«
Themistokles' Hände verkrampften sich so fest um seinen Stab, daß die Knöchel weiß hervortraten. »Noch nie zuvor, Prinz Priwinn«, sagte er, »habe ich mit solcher Inbrunst gehofft, nicht recht zu behalten.« Er schaute mit leerem Blick über die mit Flößen übersäte Oberfläche des Sees. »Und Euer Vater?«
»Gefallen«, sagte Priwinn. »So wie all die anderen. Der Rat der Weisen existiert nicht mehr. Ich bin der einzige Überlebende. Sie warfen sich dem schwarzen Heer entgegen, ein paar hundert Getreue, die geblieben waren, um uns die Flucht zu ermöglichen. Ich... ich wollte bleiben, um an der Seite meines Vaters zu kämpfen und zu sterben, aber er ließ es nicht zu.«
»Es war ein guter Entschluß«, murmelte Gorg. »Euer Volk braucht einen Führer.«
»Einen Führer?« Priwinn lachte hart, und in seinen Augen glitzerten Tränen. »Du verspottest mich, Riese. Es gibt nichts mehr, wohin ich sie führen kann.«
»O doch«, mischte sich Kim ein. »Euer Leben ist wichtiger als je zuvor, Prinz Priwinn. Der wirkliche Kampf gegen Boraas und sein Heer steht noch bevor. Ihr habt eine Schlacht verloren, aber der Krieg geht weiter.«
Priwinn musterte ihn eine Weile schweigend.
»Du hast sie nicht erlebt, Kim«, sagte er dann. »Du hast das Heer gesehen, aber du hast nicht erlebt, wie sie kämpfen. Das sind keine Menschen, das sind Teufel. Ich habe sie gesehen, und ich weiß, daß es niemanden gibt, der ihnen widerstehen kann. Auch Gorywynn wird fallen. Niemand kann dem Schwarzen Lord widerstehen.«
»Der Schwarze Lord?« fragte Themistokles erschrocken. »Ihr habt den Schwarzen Lord gesehen, Prinz?«
Priwinn nickte. »Er ritt an der Spitze des Heeres, und er war der Schrecklichste von allen. Es gibt keinen, der ihn besiegen könnte.«
Themistokles wich seinem Blick aus. »Ihr seid müde, Prinz«, murmelte er. »Laßt euch ein Zimmer zuweisen und Eure Wunden versorgen. Später werden wir beraten, was zu tun ist.« Er gab einer seiner Wachen einen Wink, und der Mann hob Priwinn wie ein Kind auf die Arme und trug ihn fort.
Die Lichter erloschen nicht in dieser Nacht. Dunkelheit senkte sich über die gläsernen Wälle der Festung, aber Gorywynn schlief nicht. Trotz seiner gewaltigen Größe schien das Schloß nach der Ankunft der Steppenreiter schier aus den Nähten zu platzen, und es gab wohl keinen, der an diesem Abend zur Ruhe kam. Verwundete wurden versorgt, Trauernde getröstet, so gut es ging, und wo man sich nicht um Verletzte kümmerte oder Hungernde labte, saß man zusammen und redete. Trotz allem, was geschehen war, begriff so mancher erst jetzt, beim Anblick dieses geschlagenen, entwurzelten Volkes, welches Schicksal ihnen allen in wenigen Tagen oder Wochen bevorstehen mochte. Caivallon war mehr als nur irgendein Schloß gewesen. Seit jeher galten die Steppenreiter als die furchtlosesten und stärksten Bewohner Märchenmonds. Caivallons Niederlage bedeutete nicht nur den Fall einer Festung, sondern das Ende eines Traumes. Caivallon war ein Symbol der Macht und der Sicherheit gewesen, ein Bollwerk, das Märchenmond seit Anbeginn der Zeit vor jeder Bedrohung geschützt hatte. Und nun war es gefallen. Der Feind hatte den ersten großen Schlag in diesem schrecklichen Krieg ausgeteilt, und die Wunde, die er hinterlassen hatte, schmerzte.
Auch Kim schlief nicht in dieser Nacht. Ein paarmal hatte er versucht, zu Themistokles vorzudringen, aber immer vergebens. Und so hatte er begonnen, ruhelos in den weiten Gängen Gorywynns umherzuwandern, trotz der ungezählten Menschen, die ihn umgaben, einsam, vielleicht von all den Tausenden, die Gorywynn bevölkerten, der Einsamste.
Erst als er plötzlich vor einer geschlossenen Tür stand und sein Blick auf die weißgoldene Uniform des Wächters davor fiel, merkte er, wohin ihn seine Schritte - bewußt oder unbewußt - geführt hatten.
»Wie geht es dem Prinzen?« fragte er hastig, um sein Erschrecken zu verbergen.
»Prinz Priwinn schläft, Herr. Der Heilkundige war bei ihm, und er hat sich ein wenig gestärkt. Themistokles hat Weisung gegeben, ihn nicht zu stören.«
»Ich störe ihn bestimmt nicht«, sagte Kim, während er bereits nach der Türklinke griff. »Ich möchte mich nur davon überzeugen, daß es ihm gutgeht.«