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Der Posten zögerte noch.

Kim, der die schwarze Rüstung mit einer weißen, lose fallenden Tunika vertauscht hatte und sich jetzt kaum noch von irgendeinem anderen Bewohner Gorywynns unterschied, beschloß die Vertrauensstellung, die er genoß, zum ersten Mal schamlos zu nutzen.

»Das geht schon in Ordnung«, sagte er zu dem Posten. »Themistokles weiß, daß ich hier bin.«

Der Wächter nickte erleichtert, und Kim trat ein.

Der Raum war dunkel. Durch die Ritzen der Tür und das halbgeöffnete Fenster fiel ein wenig Licht herein, gerade genug, um die Dinge im Zimmer als schwarze, massige Schatten erkennen zu lassen. Kim blieb einen Moment an der Tür stehen, sah sich suchend um und ging dann zögernd auf das Bett zu, in dem der junge Prinz lag. Er wußte selbst nicht genau, warum er hierhergekommen war. Priwinn schlief, wie die regelmäßigen Atemzüge bewiesen, und eigentlich hatte Kim hier nichts verloren. Trotzdem trat er näher an das Bett heran und betrachtete den Schlafenden. Priwinns Gesicht wirkte im fahlen Licht des Mondes blaß und schmaler, als er es in Erinnerung hatte. Der Heilkundige hatte den Riß auf seiner Wange behandelt, nur eine dünne rote Linie war zurückgeblieben, und auch der Verband um seine rechte Hand war erneuert.

Priwinns Atem ging gleichmäßig, aber schnell, und die Augäpfel unter den geschlossenen Lidern bewegten sich unablässig. Wahrscheinlich träumte er, und wahrscheinlich waren es keine angenehmen Träume.

Kim wandte sich ab, ging zur Tür und drehte sich dann noch einmal um, ohne genau zu wissen, warum.

Priwinns Augen waren geöffnet. Er war wach.

Kim trat verlegen auf der Stelle und lächelte unsicher.

»Ich... es tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe«, sagte er leise. »Ich wollte dich nicht stören. Entschuldige.«

Priwinn setzte sich halb auf, stützte sich auf die Ellbogen und schüttelte den Kopf. »Du hast mich nicht geweckt. Ich war wach, die ganze Zeit. Und ich habe gehofft, daß du kommst.«

»Wirklich?«

Priwinn nickte. »Ich habe oft an dich gedacht, Kim«, gestand er. »Ich habe viel nachgedacht auf dem Weg hierher. Über das, was du versucht hast, uns zu erklären...« Er stockte, und Kim hatte den Eindruck, als ob es in seinem Gesicht schmerzlich zuckte. Aber es war zu dunkel, um es mit Sicherheit sagen zu können.

»Es war eine gute Rede, die du vor dem Rat der Weisen gehalten hast«, fuhr Priwinn nach einer langen Pause fort. »Zu gut für uns. Wenigstens für mich. Ich habe sie damals nicht verstanden oder nicht verstehen wollen; und als ich sie verstanden habe, war es zu spät.« Kim wollte etwas sagen, aber Priwinn winkte ab. »Nein, widersprich mir nicht, Kim. Du weißt nicht, was geschehen ist, als ihr fort wart, du, Themistokles und die anderen.«

»Ich weiß es...«

»Du weißt es nicht!« unterbrach ihn Priwinn laut, so laut, daß Kim unwillkürlich einen besorgten Blick zur Tür warf.

Aber draußen auf dem Gang blieb alles ruhig.

»Du weißt es nicht«, wiederholte Priwinn. »Wir haben beraten, mein Vater, die anderen und ich. Der Rat der Weisen hat über euren Vorschlag abgestimmt. Deine Worte, Kim, haben großen Eindruck hinterlassen. Der Rat war sich uneinig, zum ersten Mal seit sehr langer Zeit. Wir haben die ganze Nacht beraten, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen. Schließlich wurde abgestimmt, und die Mehrheit der Stimmen war dafür, Caivallon zu halten.« Er blickte starr vor sich hin und sagte mit leisem, bitterem Lachen: »Weißt du, wie groß diese Mehrheit war, Kim? Eine Stimme. Meine Stimme. Ich war es, der schließlich die Entscheidung herbeiführte, der bestimmte, daß Caivallon nicht evakuiert wurde. Ich war es, der die Verantwortung für das übernahm, was schließlich geschehen ist. Dieser sinnlose Kampf und all die Toten - es war meine Schuld. Hätte ich auf dich gehört statt auf meinen verdammten Stolz, könnten so viele meines Volkes noch am Leben sein.«

Kim streckte die Hand aus und berührte Priwinn zaghaft an der Schulter. »Dich trifft keine Schuld«, sagte er leise. »Du hast getan, was du glaubtest tun zu müssen. Du könntest dir nur etwas vorwerfen, wenn du gegen deine Überzeugung gehandelt hättest. Aber das hast du nicht. Keiner von uns ist stark genug, dem Schicksal vorzuschreiben, was es zu tun hat.«

»Sagst du das nur, um mich zu trösten?«

»Nein, Priwinn. Du hast der Stimme deines Gewissens gehorcht, und es ist niemals falsch, dies zu tun. Jeder sollte so handeln, wie er es für richtig hält, nicht so, wie es die anderen wollen.« Er brach ab und schwieg betreten. Seine eigenen Worte hallten hohl in seinem Kopf nach. Irgend etwas, was die ganze Zeit über in ihm gewesen war, ein Entschluß, den er schon vor langer Zeit gefaßt und den auszusprechen er nur noch nicht den Mut gefunden hatte, reifte in ihm und wurde zur Gewißheit. »Jeder sollte tun, was er tun zu müssen glaubt«, wiederholte er, mehr für sich als für Priwinn. »Und genau das werde ich tun. Ich habe schon viel zu lange gezögert.«

Priwinn sah ihn aufmerksam an. »Was meinst du damit?«

Kim zögerte. Irgend etwas sagte ihm, daß er Priwinn rückhaltlos vertrauen konnte. Er ging zur Tür, preßte das Ohr an das Holz und lauschte. Dann kam er zurück, setzte sich auf die Bettkante und begann leise zu erzählen, was nach seinem Eintreffen auf Gorywynn vorgefallen war.

Priwinn hörte aufmerksam zu, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen. »Ich glaube, ich weiß, was du tun willst«, sagte er, als Kim zu Ende erzählt hatte. »Und ich glaube, es ist richtig. Würdest du... würdest du mich mitnehmen?«

Kim sah ihn überrascht an. »Dich mitnehmen? Zum König der Regenbogen? Auf einen Weg, von dem ich nicht weiß, ob er überhaupt ein Ziel hat?«

Priwinn nickte.

»Aber ich habe keine Ahnung, ob ich lebend wiederkomme«, gab Kim zu bedenken. »Es ist gefährlich, vielleicht tödlich. Und vielleicht existiert dieser sagenhafte Regenbogenkönig gar nicht. Und wenn doch, wer weiß, ob er uns tatsächlich hilft.«

»Er existiert«, sagte Priwinn. »Und du wirst ihn finden, wenn du es nur willst. Ich werde hier nicht gebraucht. Gorywynn mag fallen oder nicht - ein Schwert mehr oder weniger macht keinen Unterschied. Vielleicht ist es wirklich gefährlich, aber wenn ich schon sterbe, dann wenigstens nicht unter den Klingen der schwarzen Reiter. Laß mich dich begleiten. Du kennst dieses Land nicht. Allein hast du keine Chance. Zu zweit könnten wir es schaffen.«

Kim überlegte lange, ein paar Minuten lang. Dann stand er entschlossen auf. »Wann gehen wir?«

Priwinn strahlte. »Du nimmst mich mit?«

»Ja. Ohne deine Führung würde ich mich wahrscheinlich schon nach den ersten hundert Metern verlaufen.«

»Wir treffen uns in einer halben Stunde am Nordtor«, schlug Priwinn vor. »Ich will mich nur rasch umziehen.«

»Und die Wache?«

Priwinn winkte ab. »Mach dir deshalb keine Sorgen. Ich werde pünktlich dasein.«

Mit klopfendem Herzen ging Kim in sein Zimmer zurück. Er fühlte sich frei und erleichtert, als wäre eine schwere Last von ihm genommen, obwohl er neuen, unbekannten Gefahren entgegenging. Er schloß die Tür hinter sich ab und legte seinen schwarzen Harnisch an. Die weiße Tunika knüllte er zusammen und warf sie achtlos in eine Ecke. Es war die Kleidung des Feindes, die er trug, aber sie hatte ihm bisher nur Glück gebracht; und wenn Kim unter all den Waffenröcken, die in Gorywynn zusammengetragen worden waren, auch gewiß einen besseren und schöneren gefunden hätte, zog er doch diesen schwarzen Panzer vor. Er überprüfte sorgfältig den Sitz des Brustpanzers und der Arm- und Beinschienen, öffnete dann die schwere Eichenholztruhe neben seinem Bett und nahm Laurins Umhang heraus. Er hatte ein etwas schlechtes Gewissen, als er den Mantel um die Schultern legte. Themistokles hatte ihm diesen Schatz anvertraut, und nun hinterging er den alten Zauberer auf gröbliche Weise.