Er nahm Priwinns Schild auf, befestigte ihn mit den Halteriemen an seinem linken Arm und verließ das Zimmer. Trotz der späten Stunde herrschte noch reges Treiben auf den Gängen, und der weite Innenhof der Festung war von unzähligen flackernden Feuern beinah taghell erleuchtet. So mancher verwunderte Blick wurde ihm zugeworfen, als er, in voller Rüstung und wie zu einem Waffengang gewappnet, zu den Stallungen hinüberging. Aber niemand sprach ihn an. Kim erreichte die Stallungen, und zum ersten Mal seit vier Tagen sah er seinen Rappen wieder. Das Pferd wieherte erfreut, als es ihn erkannte, und Kim verschwendete ein paar Minuten damit, seinen Hals zu streicheln und ihm liebevolle Worte ins Ohr zu flüstern.
Als er sich umdrehte und Junge am Zügel aus dem Stall führen wollte, wuchs ein riesiger schwarzer Schatten vor ihm empor. Kims Herz machte einen schmerzhaften Sprung.
»Gorg!«
»Und Kelhim«, brummte es von der anderen Seite des Stalles. Kim fuhr herum und erkannte den Bären, der auf allen vieren vor der Tür hockte und ihn kopfschüttelnd ansah. »Tztztz«, machte er. »Eigentlich hätten wir es uns denken können, daß dieser junge Hitzkopf die Ratschläge älterer Leute in den Wind schlägt und sich auf eigene Faust davonmacht, nicht wahr?«
Gorg nickte bekräftigend. »Ja. Aber ich hätte nicht gedacht, daß er die Frechheit hat, sich einfach davonzuschleichen.« Er warf dem Bären einen nachdenklichen Blick zu. »Was machen wir nun mit ihm?«
Kim hätte vor Wut und Enttäuschung am liebsten geheult. Sein Vorhaben war gescheitert, noch bevor er begonnen hatte, es in die Tat umzusetzen.
Kelhim erhob sich schwerfällig und gab die Tür frei. »Am besten, wir gehen erst mal hier raus«, brummte er. »Ich mag Ställe nicht. Sie stinken. Und ich mag auch Pferde nicht. Außer zum Frühstück.« Er stieß die Tür auf und trottete hinaus. Gorg legte Kim seine große Hand auf die Schulter und schob ihn vor sich her ins Freie. Sie überquerten den Hof, aber zu Kims Erstaunen wandten sie sich nicht dem Hauptgebäude zu, sondern steuerten eine schmale Seitenpforte an, die nach draußen führte. Sie stand offen, und von dort draußen drang ein heller goldener Schimmer herein. Rangarig!
Kims Verdacht, daß hier irgend etwas nicht stimmte, wurde zur Gewißheit, als er den Dritten im Bunde sah.
»Priwinn!«
Priwinn lächelte. »Ich habe doch versprochen zu kommen, oder?«
»Aber...« Kim schaute verdutzt zu Gorg hinauf.
Der Riese gab sich alle Mühe, ernst dreinzublicken, aber in seinen Augenwinkeln glitzerte der Schalk. »Du glaubst doch nicht, daß wir dich allein gehen lassen, wie?«
»Heißt das, daß ihr... mitkommt?« fragte Kim ungläubig. »Was denn sonst? Festhalten können wir dich ja schlecht, oder?«
Kim brauchte eine Weile, um seiner Überraschung Herr zu werden. »Aber ihr... ihr wart doch alle dagegen«, stotterte er verwirrt.
»Niemand war dagegen«, widersprach Kelhim. »Aber hätten wir dich gleich ziehen lassen, wärest du blind losgestürmt, nur von dem Gedanken beseelt, Gorywynn retten zu müssen. Wir mußten warten, bis du wirklich bereit warst.«
XIII
Schneller, als ein Pfeil fliegt, trug Rangarig sie nach Westen, tiefer in die Nacht hinein. Der Wind brauste ihnen ins Gesicht, und das Land fiel schnell unter ihnen hinab und wurde zu einer dunklen, konturlosen Masse. Kim drehte sich vorsichtig um und blickte zurück. Gorywynn war zu einem glitzernden Juwel zusammengeschrumpft, eine helle, in rosafarbenem und blauem Licht schimmernde Perle, deren Glanz noch lange, nachdem ihre Umrisse in Entfernung und Dunkelheit versunken waren, die Nacht im Osten erhellte.
»Sitzt ihr gut?« brummte Kelhim. Ohne Kims oder Priwinns Antwort abzuwarten, legte er von hinten seine mächtigen braunen Tatzen um ihre Körper und preßte die beiden Jungen an sich und aneinander, um sie sowohl vor dem eisigen Wind zu schützen als auch vor dem Herunterfallen zu bewahren.
Rangarigs Flügel teilten mit machtvollem Rauschen die Luft, als der Drache sich höher und höher emporschwang. Das Mondlicht brach sich in blitzenden silbernen und goldenen Reflexen auf seinen Flanken, und so mancher, der in dieser Nacht einen zufälligen Blick auf den Himmel warf, mochte sich fragen, was dieser goldene Schemen zu bedeuten hatte, der da dicht vor den Sternen vorbeizog. Kim begann zu frieren, trotz der Umarmung des Bären und Gorgs breitem Rücken, der wie ein Schild vor ihm aufragte und ihn und Priwinn gegen den direkten Anprall des Windes schützte. Aber er beherrschte sich tapfer und sagte nichts.
Stunde um Stunde flogen sie nach Westen, und Kim begann sich zu fragen, ob der Drache denn überhaupt keine Müdigkeit kannte. Trotz seiner gewaltigen Größe mußte er das Gewicht seiner vier Passagiere - von denen zwei soviel wogen wie ein Dutzend normaler Männer - als lästig empfinden. Aber Rangarig flog ohne Unterbrechung weiter, bis sich der erste Schimmer des neuen Tages am Horizont zeigte. Erst dann wurden seine Flügelschläge langsamer, und er ließ sich ruhig zur Erde hinabgleiten.
Kim beugte sich neugierig zur Seite und versuchte zu erkennen, was unter ihnen war. Sie schwebten über einer endlosen, grüngewellten Decke; Wipfel eines Waldes, der sich so weit erstreckte, wie der Blick reichte, nur hier und da von einer kleinen Lichtung oder dem glitzernden Band eines Flusses unterbrochen. Rangarig ging tiefer und glitt eine Weile dicht über dem Dach des Waldes dahin, ehe er mit einem letzten, mächtigen Flügelschlag hinabstieß und auf einer langgestreckten, von einer blumigen Wiese bedeckten Lichtung landete. Seine Flügel falteten sich knisternd zusammen. Er kroch noch ein Stück am Boden weiter, bis er im Schatten des Waldrandes angelangt war, und ließ sich erleichtert nieder.
»Genug für eine Nacht«, keuchte er. »Auch ein Drache braucht von Zeit zu Zeit Ruhe.« Er wartete, bis seine Gäste der Reihe nach von seinem Rücken gesprungen waren, rollte sich zusammen und bettete den Kopf auf die Vorderfüße. Sekunden später verkündete lautes, rasselndes Schnarchen, daß er eingeschlafen war.
Kim machte ein paar vorsichtige Schritte und rieb sich das schmerzende Kreuz. Der Ritt auf dem Drachen war alles andere als bequem gewesen. Trotz Kelhims behutsamer Umklammerung hatte er sich die ganze Zeit krampfhaft festgehalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er war müde, und Hunger und Durst quälten ihn wie schon lange nicht mehr.
Gorg reckte sich, daß die Knochen krachten. »Ein Schläfchen würde mir jetzt auch guttun«, verkündete er gähnend. »Ich muß gestehen, ich bin schon bequemer gereist.«
Rangarigs rechtes Augenlid klappte nach oben. »Dann geh doch zu Fuß«, grollte er, schloß das Auge wieder und schnarchte weiter, als wäre nichts gewesen.
Kelhim lachte schadenfroh. »Statt rumzumeckern, solltest du dir lieber Sorgen um unser Frühstück machen«, brummte er. »Ich habe Hunger wie ein Bär.«
Gorg grunzte etwas Unverständliches, schwang sich seine Keule über die Schulter und blinzelte zur Sonne hinauf. »Noch früh«, sagte er. »Fast zu früh für die Jagd. Aber ich werde mein Glück versuchen. Kümmert ihr euch um das Feuer.« Ohne ein weiteres Wort verschwand er unter gewaltigem Krachen und Bersten im Unterholz.
Priwinn und Kim begannen in der näheren Umgebung Holz und trockenes Laubwerk zusammenzusuchen. Die Aufgabe war nicht leicht. Der Wald war saftig und grün, die Bäume standen in voller Blüte, und nur selten fanden die Jungen einen trockenen Ast, den sie ohne allzugroße Anstrengung abbrechen und mitnehmen konnten. Es dauerte fast eine Stunde, bis sie genug Holz für ein Feuer beisammen hatten. Aber jetzt ergab sich die Schwierigkeit, das feuchte und zum Teil noch grüne Holz zum Brennen zu bringen. Kim hatte eine sehr verschwommene Vorstellung vom Aneinanderreiben trockener Stäbe und ähnlich abenteuerlichen Methoden, Feuer zu machen, aber Priwinn lachte nur dazu. Mit einem Augenzwinkern ging er zu dem schlafenden Drachen hinüber, schlug ihm zweimal hintereinander mit der Faust auf die Nase und trat ihm dann fest in die Seite, um ihn wachzubekommen. Rangarig öffnete spaltbreit ein Auge und blinzelte verschlafen. »Waschischlosch?« murmelte er.