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»Die Klamm der Seelen«, vermutete Kim.

Priwinn nickte. »Ja. Die Klamm der Seelen. Und an ihrem Ende faltete sich die Erde unter den ungeheuren Gewalten, die der Mensch wohl entfesseln, aber nicht mehr beherrschen konnte, zu einer gewaltigen Barriere auf. Flüssiges Gestein, heiß wie die Sonne und dünn wie Wasser, rann von den geschmolzenen Gipfeln der Schattenberge herab und verband sich mit dieser neuen, von Menschen geschaffenen Barriere.« Er hielt einen Moment inne, und als er weitersprach, klang seine Stimme irgendwie traurig. »Nur wenige Menschen überlebten das Grauen. Sie flohen in Höhlen, tief unter der Erde, und sie und ihre Kinder hausten wie die Tiere. Durch viele Generationen lebten sie so, eingeschlossen, ohne Licht und Luft, bis die Menschen ihre Heimat und ihre Abstammung vergaßen. Jahrhunderte vergingen, und als die Kindeskinder der Kindeskinder jener, die den Untergang überlebt hatten, endlich den Weg zurück ans Tageslicht fanden, hatte sich die Erde erholt, und es gab wieder Leben. Seither mahnt uns dieses Gebirge mit jedem Tag, uns auf das zu besinnen, was wir sind, und nicht nach den Sternen zu greifen.«

»Das ist... keine schöne Geschichte«, murmelte Kim, nachdem Priwinn geendet hatte.

Priwinn lächelte. »Nein, Kim. Sie ist nicht schön, aber es ist nur eine Geschichte, vergiß das nicht. Ich glaube nicht, daß sie auf Wahrheit beruht.«

Kim antwortete nicht. Sein Blick streifte wieder über die zackigen Umrisse der Berge ringsum, und plötzlich sah er die Dinge mit anderen Augen. Der matte Glanz der Felswände erinnerte ihn an blindes, von Jahrtausenden abgeschliffenes Glas. Die seltsam regelmäßigen Streifen und Linien auf der Felsplatte zu seinen Füßen mochten die Spuren von Lavaströmen sein, die vor undenklichen Zeiten hier entlanggeflossen waren. Und mit einem Mal ahnte - nein, wußte er, daß Priwinns Geschichte kein Märchen, sondern Wahrheit war.

Er trat von der Felskante zurück, hockte sich auf den nackten Boden und schlug frierend die Arme um den Oberkörper. Sein Schild schützte ihn ein wenig gegen den böigen kalten Wind, aber die Kälte kroch unbarmherzig unter seine Kleidung und nistete sich in seinen Gliedern ein. Trotzdem zögerte er noch, in den Schutz des Drachen zurückzukehren.

»Dieses Gebirge führt uns direkt zur Klamm der Seelen?« fragte er Priwinn, der sich neben ihn gesetzt hatte.

»Ja. Aber wir werden ihm nicht folgen. Rangarig ist nur hierhergeflogen, weil wir hier sicher sind. Sogar die schwarzen Reiter meiden diese Gegend, und ich glaube, auch der Drache ist nur ungern hergekommen. Es heißt, daß der Geist der Vergangenheit hier umgeht.« Priwinn versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. Kim spürte die unsichtbare Bedrohung, die wie ein schleichendes Ungeheuer hinter den Felsen lauerte, genauso wie damals, als sie Kelhims Höhle durchquert hatten.

»Glaubst du, daß wir noch mehr schwarzen Reitern begegnen werden?«

Priwinn zuckte die Achseln. »Ich hoffe nicht, aber sie sind überall, im ganzen Land. Boraas ist mißtrauisch.«

»Du glaubst, er ahnt, was wir vorhaben?«

»Noch nicht. Aber wenn er es erfährt, wird er seine Pläne ändern und Gorywynn unverzüglich angreifen. Das ist es, was mir Sorgen bereitet.« Er zog die Knie an den Körper und versank in brütendes Schweigen.

»Komm«, sagte er schließlich. »Schlafen wir ein wenig. Wir werden unsere Kräfte noch brauchen.«

Sie standen auf und gingen zu Rangarig zurück. Kelhim und der Riese schliefen eng zusammengerollt neben den goldenen Flanken des Drachen. Kim legte sich nieder und versuchte sich auf dem steinigen Boden in eine einigermaßen bequeme Lage zu betten. Müdigkeit breitete sich über ihn. Kurz bevor er einschlief, öffnete er noch einmal die Augen und blickte nach Westen, wo, noch in dunstiger Ferne verborgen, die Klamm der Seelen auf sie wartete.

Und plötzlich, zum ersten Mal seit Tagen, hatte er wieder Angst.

Rangarig weckte sie bei Einbruch der Dämmerung. Sie brachen sofort auf. Als der Drache sich an die Plateaukante schob und mit weit ausgebreiteten Schwingen in die Tiefe fallen ließ, um die warmen Aufwinde entlang der Felskante auszunutzen, lag das steinerne Rund unberührt da, so, wie es wahrscheinlich schon seit Millionen Jahren dagelegen hatte. Nichts zeugte von ihrem kurzen Eindringen in dieses Reich des Schweigens und des Windes, und als Kim zurückblickte und den Tafelberg langsam in der Dämmerung hinter sich verschwinden sah, mußte er sich eingestehen, daß es gut war. Menschliches Leben - jedes Leben, gleich welcher Art - hatte hier nichts verloren. Dieses Gebirge war eine steinerne Mahnung, ein Monument, die Fehler der Vergangenheit nie mehr zu wiederholen.

Kim lehnte sich gegen Gorgs breiten Rücken und versuchte wieder einzuschlafen, aber Hunger und Kälte hielten ihn wach. Je weiter sie nach Westen kamen, desto kälter schien es zu werden. Kim fragte sich, ob es in dieser Welt statt eines Nord- und Südpols, wie in seiner Heimat, einen West- und Ostpol gab und ob die Klamm der Seelen sie vielleicht geradewegs in ein kälteklirrendes Reich ewigen Eises führte. Er erinnerte sich, daß Themistokles etwas von einer Eisigen Einöde erwähnt hatte. Wenn das stimmte, hatten sie wohl einen verhängnisvollen Fehler begangen. Keiner von ihnen - mit Ausnahme des Bären, den sein dichtes Fell gegen die Kälte schützte - hatte sich warm genug angezogen, um einen Marsch durch eine Landschaft aus Eis und Schnee durchzustehen.

Aber für solche Überlegungen war es jetzt zu spät. Sie hatten schon beinah die Hälfte des Weges zurückgelegt, und Kim würde unter gar keinen Umständen mehr umkehren.

Die Nacht verstrich, Rangarigs Bewegungen hatten viel von ihrer kraftvollen Ruhe eingebüßt, dennoch flog der Drache weiter, ohne sich zu beklagen. Sie hatten das Gebirge hinter sich gelassen und überquerten nun eine weite Savanne. Vereinzelte Häuser tauchten unter ihnen auf, und einmal glitt der Lichterglanz einer größeren Stadt weit im Süden an ihnen vorbei. Rangarig flog unbeirrt weiter nach Westen, und erst als es hell wurde, verlor er wieder an Höhe und hielt nach einem Landeplatz Ausschau. In weiten Spiralen kreiste er tiefer, wandte den mächtigen Schädel nach rechts und links und suchte nach einer Stelle, die ihnen sowohl als Versteck als auch als Rastlager dienen konnte.

Plötzlich zuckten Rangarigs Flügel, und sein Körper bäumte sich auf, daß sich seine Passagiere krampfhaft festhalten mußten, um nicht abgeworfen zu werden.

»Was ist los?« brüllte Gorg.

»Schwarze!« fauchte Rangarig. »Im Süden!«

Kim lehnte sich zur Seite und versuchte, an Gorg vorbei einen Blick auf die Landschaft unter ihnen zu werfen. Er sah nichts als einen dunklen, formlosen Fleck am Horizont. Aber Rangarig schien bessere Augen als er zu haben. Der Drache flog mit äußerster Kraft und so schnell wie noch nie weiter nach Süden. Nach wenigen Augenblicken konnten Kim und die anderen ein niedriges, strohgedecktes Haus erkennen, das allein und ungeschützt auf der weiten Ebene der Savanne stand. Eine Horde schwarzer Reiter umkreiste das Haus auf ihren großen schwarzen Pferden. Ihr Kriegsgeschrei war bis hierherauf zu hören. Während sich der Drache höher in die Luft schwang und mit weit ausgebreiteten Flügeln zum Angriff ansetzte, ging ein Hagel brennender schwarzer Pfeile auf das Haus nieder.