Выбрать главу

Kim konnte sich mit dem Gedanken nicht anfreunden. Er hatte die Klamm der Seelen zwar noch nicht persönlich kennengelernt. Aber was ihm Themistokles und die anderen erzählt hatten, legte die Vermutung nahe, daß es sich um eine mehr als unwirtliche Gegend handelte. Und ganz gewiß nicht den richtigen Ort für zwei Frauen und einen hilflosen Säugling.

»Die Idee gefällt mir nicht«, sagte er.

»Mir auch nicht«, gestand Gorg. »Aber ich habe keine bessere. Wir können nicht vier Tage opfern.«

»Es sind genug herrenlose Pferde draußen«, wandte Kim ein. »Wir könnten ein paar davon einfangen und auf ihnen zur Klamm weiterreiten!«

»Du würdest sechs Tage brauchen, wenn nicht länger. Ganz davon abgesehen, daß du eine Kleinigkeit zu vergessen scheinst.«

»Und zwar?«

»Den Tatzelwurm. Ohne Rangarig kommen wir nicht an ihm vorbei.«

Kim schwieg betroffen.

Sie hatten wirklich keine andere Wahl. Schickten sie Rangarig zurück nach Gorywynn, verspielten sie vielleicht die letzte Chance, die dieses Land noch hatte. Und ließen sie Brobing und seine Familie hier, verurteilten sie sie zum sicheren Tod. Die Situation war ebenso grausam wie ausweglos.

Er überlegte eine Weile, ging dann zum Tisch und ließ sich schwer auf die Bank fallen.

»Gut«, sagte er. »Wann brechen wir auf?«

XIV

Wieder flogen sie nach Westen. Alle hatten geruht und ihren Körpern den lange entbehrten Schlaf gegönnt. Die Brobings, die Haus und Hof aufgeben mußten und einer ungewissen Zukunft entgegensahen, hatten ihre Vorratskammer bis auf den letzten Krümel geräumt und ein Mahl zubereitet, das selbst den Appetit des Bären und des Riesen zufriedenstellte. Rangarig, der, wie er selbst sagte, nur alle paar Wochen einmal zu essen brauchte, hatte sich damit begnügt, den Bach und einen Teil des Weihers, der hinter dem Haus lag, auszusaufen. Dann ließ er sie alle auf seinen breiten Rücken steigen und schwang sich wieder in die Luft. Er flog nicht mehr so hoch und schnell wie in den ersten beiden Nächten, und Kim spürte, wie sehr das zusätzliche Gewicht von sechs Erwachsenen und einem Kind an seinen Kräften zehrte. Aber wie um diese Verzögerung auszugleichen, suchte er sich bei Tagesanbruch keinen Schlafplatz, sondern flog weiter in den Morgen, den Mittag und Nachmittag hinein. Die grasige Ebene unter ihnen ging nun in eine felsige, mit Lavabrocken und großen, trichterartigen Löchern übersäte Kraterlandschaft über.

Kim schauderte. Der Fels war schwarz, vollkommen schwarz. Selbst das Sonnenlicht wurde von den schwarzen Felsen nicht zurückgeworfen, sondern schien aufgesaugt zu werden, als wären die Steine mit einer geheimnisvollen, lichtschluckenden Substanz überzogen. Es hätte Gorgs Bemerkung, daß sie sich der Klamm der Seelen näherten, nicht bedurft.

Spät am Nachmittag begann Rangarig auf die nun schon bekannte Art zu kreisen und tiefer zu gehen, um ein letztes Mal nach einem Rastplatz auszuschauen.

Gorg drehte sich halb herum und packte Kims Arm so fest, daß es schmerzte. »Sieh nach Westen!«

Kim gehorchte. Das Land fiel vor ihnen sanft ab, ein kilometerlanger Hang, von drohenden Schatten und großen, lichtlosen Bereichen erfüllt, bar jeden Lebens und jeder Bewegung.

Und an seinem Ende klaffte ein gewaltiger, bodenloser Riß in der Erde. Kim rang nach Atem. Er hatte Gewaltiges erwartet, aber seine Phantasie hatte nicht ausgereicht, sich das wirkliche Ausmaß der Klamm vorzustellen. Sie begann als gerade, wie mit einer unvorstellbar großen Axt in den Boden gehauenen Kerbe, die in jenen gezackten Riß überging, der sich weiter und immer weiter nach Westen zog und dabei ständig an Breite zunahm. Unzählige schmale, hin und her springende Nebenschluchten gingen von der Klamm aus und überzogen das Land mit einem Gewirr von Rissen und Sprüngen. Der Anblick ließ Kim unwillkürlich an einen gewaltigen, schwarzen Blitz denken, der auf den Bogen geprallt und in Zeitlosigkeit erstarrt war. Sein Blick saugte sich mit fast hypnotischer Kraft an der lichtlosen Schwärze der Klamm fest und suchte vergeblich nach einem Halt. Angst stieg in ihm auf, eine Furcht, gegen die er sich nicht zu wehren vermochte. Kim war froh, als Rangarig die Richtung änderte und die Klamm seinen Blicken entschwand.

Sie landeten inmitten eines Gewirrs nadelspitzer Felsdolche und großer, rohgeformter Brocken aus schwarzem Glas. Steif und mit schmerzenden Muskeln stiegen sie von Rangarigs Rücken. Keiner sprach ein Wort, aber es war nicht allein die Müdigkeit, die sie schweigen ließ. Die sie umgebende Lebensfeindlichkeit legte sich wie ein drückendes Gewicht auf ihre Seelen.

Sie hatten Feuerholz und Reisig mitgebracht und bereiteten aus den mitgeführten Vorräten ein einfaches, aber schmackhaftes Mahl. Hinterher zog sich jeder für sich zum Schlafen zurück. Nicht einmal Gorg, der sonst keine Gelegenheit ausließ, um zu schwatzen, sagte etwas.

Kelhim übernahm die erste Wache. Die übrigen Mitglieder der zusammengewürfelten Reisegesellschaft waren eingeschlafen, noch ehe die Sonne drei Viertel ihres Weges über den Himmel zurückgelegt hatte. Kim schlief unruhig, gequält von Alpträumen und Ängsten. Es war fast dankbar, als Priwinn ihn zu vorgeschrittener Nachtstunde weckte und ihm im Flüsterton mitteilte, daß er mit der Wache an der Reihe sei. Kim nahm sich ein Stück kalten Braten, kletterte auf eine Felszacke und hockte sich, eingehüllt in eine Wolldecke, darauf. Er aß ohne Appetit und eigentlich nur, weil er nicht wußte, wann es - wenn überhaupt - das nächste Mal etwas zu essen geben würde. Trotz der warmen Decke klapperten ihm vor Kälte die Zähne. Ein Blick in den Himmel sagte ihm, daß es noch lange bis Sonnenaufgang war. Sie hatten die Wachen nach keinem besonderen Gesichtspunkt eingeteilt. Nach Kim waren noch Gorg und einer der Knechte an der Reihe. Dann erst würde die Sonne aufgehen, und vielleicht - ja, dachte Kim, vielleicht würde es der letzte Sonnenaufgang sein, den er erlebte, den sie alle erlebten. Die Brobings sollten eine Woche hier auf sie warten und sich dann, falls sie bis dahin nicht zurückgekommen waren, auf gut Glück allein weiter auf den Weg machen.

Eine Woche... dachte Kim. Der Gedanke an die Zukunft oder vielmehr an das Voranschreiten der Zeit hatte auf seltsame Weise etwas Tröstliches. Trotz aller Schrecken, die der nächste Tag für sie bereithielt, würde er auch die Entscheidung bringen - so oder so. Kim begann zu begreifen, was die Erwachsenen meinten, wenn sie behaupteten, daß nichts so schrecklich sei wie die Ungewißheit. Ob sie den Tatzelwurm überwanden oder nicht, ob sie die Klamm der Seelen hinter sich brachten oder nicht - die Zeit ließ sich nicht aufhalten. Und selbst wenn sie versagten, würde irgendwann in nebelferner Zukunft aus dem Schutt des alten ein neues Märchenmond erstehen, vielleicht prächtiger als je zuvor.

Unter diesen Gedanken mußte er wohl eingenickt sein. Als er erwachte, sah er Gorgs breitflächiges, gütiges Gesicht über sich gebeugt und spürte die warme Last seiner Hand auf der Schulter. Verlegen richtete er sich auf. Er wollte etwas sagen, aber Gorg legte den Finger auf die Lippen und deutete auf die anderen, die eingerollt in ihre Decken schliefen. Kim stieg von seinem Aussichtsposten herunter und rollte sich ebenfalls am Boden zusammen. Er fror erbärmlich, aber schlimmer noch als die Kälte wühlte die Angst in seinen Eingeweiden. Eine Angst, die er sich nicht erklären konnte.

Trotzdem schlief er schnell wieder ein. Priwinn mußte ihn am Morgen mehrmals unsanft in die Seite knuffen, um ihn zum Aufstehen zu bewegen. Kim blinzelte, gähnte hinter vorgehaltener Hand und stand schwankend auf. Ein Feuer brannte. Der Geruch nach gebratenem Fleisch stieg ihm in die Nase. Außer ihm und Priwinn hatten sich schon alle um das Feuer versammelt und schmausten. Kim reckte sich. Sein Rücken schmerzte vom unbequemen Liegen auf dem felsigen Boden. Die Sonne war aufgegangen und versuchte der Landschaft mit ihrem goldenen Licht etwas von ihrer Härte und Kälte zu nehmen.