Выбрать главу

»Nun?« begrüßte ihn Gorg. »Gut geschlafen?« Der Riese zwinkerte, und Kim wußte, daß er nichts davon gesagt hatte, ihn während der Wache schlafend angetroffen zu haben. Kim nickte, setzte sich auf einen freien Platz am Feuer und griff mit solchem Appetit zu, daß es ihn selbst erstaunte. Sie brachen unmittelbar nach dem Frühstück auf. Der Abschied von den Brobings war kurz, aber herzlich. Kim mußte jedem einzelnen Familienmitglied hoch und heilig versprechen, ja gut auf sich aufzupassen und ganz bestimmt wiederzukommen.

Schweren Herzens schwang Kim sich auf Rangarigs Rücken. Der Drache ließ zum Abschied noch einmal sein Trompetengeschmetter ertönen, entfaltete die Flügel und sprang mit einem mächtigen Satz in die Luft. Kim winkte den Brobings zu, bis er sie nicht mehr erkennen konnte, und starrte noch lange in die Richtung, in der sie verschwunden waren. In den wenigen Stunden, die sie gemeinsam verbracht hatten, hatte er diese Leute herzlich liebgewonnen.

Die Klamm kam rasch näher. Rangarig flog eine Weile parallel zu der messerscharf gezogenen Kante der Schlucht, bis schließlich ein schmaler, gezackter Seitenarm vor ihnen auftauchte. Am Rande dieser Nebenschlucht ging der Drache nieder.

»Hier wäre eine geeignete Stelle, um hinunterzusteigen, scheint mir.«

Denn hinunter mußten sie. Kim hatte unterwegs einmal Gorg gefragt, warum Rangarig sie denn nicht einfach auf seinem Rücken über die Klamm der Seelen und bis zur Burg Weltende oder noch weiter tragen könne. Aber Gorg hatte den Kopf geschüttelt und ihm erklärt, daß das unmöglich sei. Um den Weg dorthin zu finden, mußten sie dem Lauf des Verschwundenen Flusses folgen. Niemand wußte, auch Rangarig nicht, wo der Verschwundene Fluß schließlich wieder zutage trat. Und hatte man sich in dem westlichen Niemandsland erst einmal verirrt, etwa weil man irrtümlich einem anderen Wasserlauf gefolgt war - und deren gab es viele -, war man rettungslos verloren. Nein, die Klamm der Seelen war und blieb der einzige Weg.

Der Moment war gekommen, dachte Kim.

Sie stiegen von Rangarigs Rücken. Kim trat vorsichtig an den Rand der Schlucht und blickte hinunter. Sie war nicht so tief, wie er insgeheim befürchtet hatte. Der Hang fiel zwar steil ab, schien aber durchaus begehbar zu sein. Schutt und ausgewaschenes Gestein bildeten eine Rampe, die wenigstens die ersten paar hundert Schritte verhältnismäßig bequem in die Tiefe führte. Kim wollte mit gutem Beispiel vorangehen und über den Rand klettern, aber Gorg hielt ihn mit eiserner Hand zurück.

»Nichts da«, sagte der Riese entschieden. »Zuerst Rangarig, dann ich und dieser Tolpatsch von Bär. Es tut mir leid, dich an den Schluß verbannen zu müssen, kleiner Held, aber diesmal geht es nicht anders.«

Kim wollte protestieren, aber Gorg schob ihn einfach beiseite und machte dann selbst Platz, um den goldenen Drachen vorbeizulassen. Rangarig tastete den Rand ab, überzeugte sich, daß der Fels sein immenses Gewicht zu tragen vermochte, und verschwand dann watschelnd in der Tiefe. Kelhim und Gorg folgten ihm dicht. Kim und Priwinn bildeten den Schluß.

Kim begriff schon bald, warum Gorg auf dieser Marschordnung bestanden hatte. Rangarig verlor auf dem Geröll mehr als nur einmal den Halt und rutschte zwanzig, dreißig Meter weit ab, und auch unter Gorgs Schritten lösten sich immer wieder kleine Geröllawinen, die polternd in der Tiefe verschwanden. Wären Kim und Priwinn vorangegangen, wären sie binnen kurzem einem Steinschlag zum Opfer gefallen.

Der Abstieg zog sich endlos in die Länge. Sie rasteten auf einem schmalen, gezackten Felsband, das kaum groß genug war, sie alle aufzunehmen, und unter Rangarigs Gewicht ächzte. Dann ging es weiter. Meter um Meter. Schritt reihte sich an Schritt, Minute an Minute, schließlich Stunde an Stunde. Nach Kims Schätzung mußte es später Nachmittag sein, als sie endlich den Grund der Schlucht erreichten. Und doch lag die eigentliche Klamm noch weit vor ihnen und noch Hunderte und Aberhunderte von Metern tiefer.

Beklemmung erfaßte ihn. Obwohl auf dem Grund des Canyons reichlich Platz war und zwischen den beiden Seitenwänden gut fünfzig Meter Raum sein mochte, hatte Kim plötzlich das Gefühl, eingesperrt zu sein. Das Licht war, je tiefer sie kamen, immer schwächer geworden. Hier unten herrschte nur noch ein diffuser grauer Schimmer, der an Nebel erinnerte und in dem das Geräusch ihrer Schritte sonderbar laut und hart wirkte. Hastig sah Kim sich nach Priwinn um, der hinter ihm ging. Es erleichterte ihn ein wenig, auch in Priwinns Gesicht Spuren der Angst zu entdecken. Es tat gut, damit nicht allein zu sein.

Sie erreichten eine Biegung, und Rangarig hielt so abrupt an, daß Gorg und Kelhim, die dicht hinter ihm gingen, um ein Haar über seinen Schwanz gestolpert wären und lauthals zu fluchen begannen. Rangarig wandte mit einem ärgerlichen Ruck den Kopf. »Still!« zischte er. »Ich höre etwas!«

Alle hielten den Atem an. Wieder einmal zeigte sich, daß Rangarigs Sinne weitaus schärfer ausgeprägt waren als die ihren. Zuerst hörten sie nichts als das Hämmern des eigenen Herzens und das Rauschen des Blutes in den Ohren. Nach einer Weile glaubte Kim noch ein anderes Geräusch wahrzunehmen - dumpfe, murmelnde Laute wie von einer großen Menschenmenge.

Rangarig kroch ein paar Meter zurück und machte dem Bären ein Zeichen. »Geh vor«, flüsterte er. »Fürs Anschleichen bin ich nicht so gut geeignet.«

Kelhim verschwand lautlos um die Biegung. Die anderen warteten mit klopfendem Herzen. Sie mußten nicht lange warten. Kelhim kehrte bald wieder zurück. Sein Ohr zuckte nervös, und in seinem Auge glomm unterdrückte Wut.

»Schwarze Reiter«, brummte er. »Die Klamm ist voll von ihnen!«

Kims Herzschlag schien einen Moment auszusetzen.

»Aber das gibt's doch nicht«, murmelte er.

»Leider doch. Ich konnte nicht viel erkennen - es ist finster dort unten wie in einem Bärena... ich meine wie in einer Bärenhöhle«, verbesserte sich Kelhim hastig. »Aber es sind viele. Und wenn mich nicht alles täuscht, habe ich sogar Baron Kart unter ihnen gesehen.«

»Baron Kart!« Kim hätte es fast geschrien. »Aber wie...?« Kelhim zuckte die Achseln, eine Geste, die ihn auf seltsame Art menschlich erscheinen ließ.

»Sie müssen irgendwie von unserem Aufbruch erfahren haben«, brummte er.

»Aber das ist unmöglich!« widersprach Kim. »Vollkommen unmöglich. Niemand wußte davon, nicht einmal wir selbst, bevor wir loszogen. Und so schnell wie Rangarig sind auch die schwarzen Reiter nicht.«

Der Drache wiegte den Kopf. »Vielleicht nicht«, zischte er. »Aber vielleicht sind sie schon lange vor uns aufgebrochen.«

»Und warum?«

»Bedenke, daß Boraas ein Zauberer ist. Auf seine Art ist er sogar mächtiger als Themistokles. Auch ich vermag manchmal Dinge vorauszusehen, vergiß das nicht.«

»Wenn du so klug bist«, brummte Kelhim, »dann sag uns doch, was wir jetzt tun sollen.«

»Das einzige, was uns zu tun bleibt«, antwortete Rangarig. »Mittendurch, was sonst?«

Sogar Gorg schien für einen Moment erschrocken.

»Wir haben den Vorteil der Überraschung auf unserer Seite«, erklärte Rangarig. »Außerdem rechnen sie sicher nicht mit meiner Anwesenheit.«

Gorg überlegte. Schließlich zuckte er die Achseln, spuckte sich kräftig in die Hände und schwang seine Keule. »Zurück können wir sowieso nicht mehr«, erklärte er. »Außerdem habe ich schon lange keine anständige Rauferei mehr erlebt. Also los.« Und zu Kim und Priwinn gewandt, fügte er hinzu: »Und ihr beide bleibt schön zwischen uns, klar?«

Er wandte sich um, schlug dem Bären mit der flachen Hand auf den Rücken und verschwand mit weit ausgreifenden Schritten um die Biegung. Kelhim folgte ihm wie ein lautloser Schatten. Hinter ihnen schob sich der Drache, nicht so lautlos, dafür um so eindrucksvoller um die Ecke.

Was dann kam, glich einem Alptraum.

Kelhim hatte nicht übertrieben. Die Klamm wimmelte von großen, schwarzgepanzerten Gestalten. Und wenn dieser plötzliche Überfall sie auch momentan überraschte, formierten sie sich doch schnell zu zähem Widerstand.