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Irgendwann, nach einer Ewigkeit, wie ihm schien, tauchte ein heller Lichtschimmer vor ihnen auf. Ihre Schritte wurden schneller, und nach wenigen, scheinbar endlosen Minuten standen sie am Eingang einer gewaltigen, trichterförmigen Senke, die Kim unwillkürlich an einen riesigen Explosionskrater denken ließ. Auf der gegenüberliegenden Seite setzte die Klamm sich fort. Aber zwischen dem diesseitigen Eingang und dem jenseitigen Ausgang dehnte sich die bleigraue, von kochenden Schlieren und hochspritzenden, schaumgekrönten Wellen überzogene Oberfläche eines Sees. Dumpfes Rauschen ließ den Boden vibrieren, und die Luft war mit Feuchtigkeit und Modergeruch gesättigt.

Etwas Seltsames geschah. Als sie aus der Klamm in den Krater hinaustraten, wich schlagartig die Angst von ihnen, und es blieb nichts als ein dumpfer Druck wie nach einem überstandenen Alptraum.

Kim ließ sich erschöpft gegen die Felswand sinken. Seine Glieder fühlten sich bleischwer an. »Ist er das?« fragte er. »Der Verschwundene Fluß?«

Gorg nickte mit ernstem Gesicht. »Ein kleines Stück davon, ja. Er tritt hier an die Oberfläche, aber nur, um dort drüben wieder im Berg zu verschwinden. Siehst du?«

Kims Blick folgte dem ausgestreckten Arm des Riesen und gewahrte ein niedriges, gezacktes Loch im Felsen, das fast vollkommen hinter einem Vorhang aus sprühendem Wasser verborgen war. Ein breiter felsiger Pfad führte um den See herum auf die Höhle zu, eben und bequem und scheinbar ohne Hindernisse.

»Und...« fragte Kim zögernd, »der Tatzelwurm?«

Diesmal war es Rangarig, der antwortete. »Er weiß, daß wir hier sind«, sagte er. »Er weiß es schon lange. Nichts, was in der Klamm der Seelen vorgeht, bleibt ihm verborgen.«

»Und wo ist er?«

Rangarig lachte dröhnend. »Vielleicht fürchtet er sich. Einen Besucher wie mich hat er sicher noch nicht gehabt.« Aber das Lachen klang nicht ganz echt.

Plötzlich riß der Drache den Kopf hoch und schrie: »He, Tatzelwurm! Komm raus! Ich weiß, daß du hier bist!« Die Worte brachen sich an den glatten Wänden und hallten als verzerrtes Echo über den See. Rangarigs Schwanz peitschte nervös und schlug Funken und Steintrümmer aus dem Fels. »Was ist los?« fragte er. »Hast du Angst?«

Sekundenlang geschah nichts. Dann erscholl ein ungeheures Brüllen als Antwort. In der Mitte des Sees begann das Wasser zu kochen und zu brodeln, und vor Kims entsetzt aufgerissenen Augen tauchte ein riesiger, schwarzglänzender Schädel aus dem Wasser auf. Ein langer, schlangenartiger Hals folgte, und endlich, als Kim schon glaubte, das Monster bestehe nur aus Kopf und Hals, tauchte auch der Leib des Tatzelwurms aus den Fluten empor, ein gigantisches schwarzes Etwas aus Panzerplatten, hornigen Stacheln und Krallen.

»Da bist du ja«, dröhnte Rangarig. »Ich dachte schon, du wärst nicht zu Hause.«

»Was willst du?« brüllte der Tatzelwurm zurück. »Du hast hier nichts verloren! Niemand betritt mein Revier, hast du das vergessen?«

Rangarig schüttelte den Kopf. »Nicht eine Sekunde lang, Vetter. Ich bin gekommen, um dir einen Handel vorzuschlagen.«

»Einen Handel?« brüllte der Tatzelwurm. »Ich schließe keinen Handel ab, das weißt du. Wer hierherkommt, bezahlt dafür mit dem Leben. Auch du. Und was sind das für lächerliche Figuren, die du da bei dir hast?«

»Das sind meine Freunde«, antwortete Rangarig, nun schon weniger überheblich. »Und sie wollen über den See. Damit hängt auch der Handel zusammen, den ich dir vorschlagen wollte.«

»So? Laß hören. Es spielt keine Rolle, ob ich euch fünf Minuten früher oder später fresse. Gefressen werdet ihr sowieso. Aber laß hören - was schlägst du vor?«

»Ganz einfach«, entgegnete Rangarig so ruhig wie möglich. »Du läßt meine Freunde unbehelligt über den See, und ich verzichte darauf, dich mit deinem eigenen Schwanz zu füttern, du mißratener Sproß meiner Familie.«

Der Tatzelwurm war einen Moment sprachlos. Wahrscheinlich hatte es noch niemand gewagt, ihn derart zu beleidigen. Dann begann er zu brüllen, daß die Felswände wackelten.

»Du wagst es, mir so etwas zu sagen? Warte, Bursche, ich werde dir zeigen, wer hier wen womit füttert!« Er bäumte sich auf, tauchte in einer gewaltigen Schaumfontäne unter und schoß wie ein Torpedo unter Wasser auf Rangarig zu. »Schnell jetzt!« rief der Drache. »Ich werde versuchen, ihn lange genug aufzuhalten, daß ihr die Höhle erreichen könnt. Aber beeilt euch!«

Sie hetzten los. Aber sie waren noch keine zehn Schritte weit gekommen, als die Wasseroberfläche am Ufer explodierte und das Monster wie die Verkörperung eines bösen Traumes daraus hervorschoß. Kim blickte sich im Laufen um und schrie vor Schreck auf, als er sah, wie groß der Tatzelwurm war. Vorhin, draußen im See, hatte er gewaltig ausgesehen. Aber erst jetzt, als Kim ihn neben Rangarig sah, erkannte er, wie gigantisch das Ungeheuer wirklich war. Sein Maul klaffte so weit auf, daß selbst Gorg bequem hätte darin stehen können, und stieß mit einem wütenden Zischen auf Rangarig herab. Der goldene Drache wich im letzten Moment aus und versetzte dem Tatzelwurm einen Schwanzhieb in den Nacken, der dem geöffneten Rachen noch mehr Schwung verlieh und ihn wuchtig gegen die Felsen krachen ließ. Einer der langen, nach innen gebogenen Zähne brach ab, und der Tatzelwurm hob ein gräßliches Geheul an und begann wild um sich zu schlagen. Sein Schwanz peitschte durch das Wasser, fegte Rangarig von den Füßen und wickelte sich wie eine Schlange um seinen Hals. Rangarig stemmte sich hoch, schnappte nach der Flanke des Tatzelwurms und grub seine Zähne tief in den empfindlichen Bauch des Ungeheuers. Wieder erschütterte ein urgewaltiges Brüllen den Talkessel. Der Tatzelwurm bäumte sich auf, zerrte den Drachen mit sich in die Höhle und begrub ihn im Herabstürzen unter sich.

Kim riß sich gewaltsam von dem schrecklichen Anblick los und rannte, was das Zeug hielt. Die anderen waren schon weit voraus, aber auch Kim hatte schon fast die Hälfte des Weges geschafft. Wenn es Rangarig gelang, das Ungeheuer noch einen Moment aufzuhalten, waren sie in Sicherheit.

Aber als hätte der Tatzelwurm seine Gedanken gelesen, riß er sich in diesem Moment von seinem Gegner los und starrte aus kleinen, boshaften Augen über das Wasser.

»Verrat!« brüllte er. Er schleuderte Rangarig mit einer wütenden Bewegung von sich und machte Anstalten, sich kopfüber ins Wasser zu stürzen, um die Verfolgung aufzunehmen. Rangarig schnappte nach seinem Schwanz, biß fünf oder sechs Meter davon ab und warf sich mit einem Satz auf den breiten Rücken des Monsters. Der Tatzelwurm heulte auf, schüttelte sich und schnellte ins Wasser. Das Letzte, was Kim von den beiden kämpfenden Giganten sah, waren Rangarigs weit ausgebreitete Flügel und der gierig aufgerissene Schlund der Bestie. Dann verschwanden ihre Körper hinter einem Vorhang aus kochendem Wasser und wirbelndem Schaum.

Keuchend erreichte Kim die Höhle. Er wollte sich umdrehen und nach Rangarig sehen, aber Gorg riß ihn unbarmherzig zurück, hob ihn hoch und trug ihn auf den Armen weiter, bis sie den Höhleneingang weit hinter sich gelassen hatten.

Kim strampelte wild mit den Beinen und schlug um sich. »Laß mich runter!« kreischte er. »Wir müssen Rangarig helfen! Er ist unser Freund! Wir können ihn nicht im Stich lassen!«

»Du kannst ihm nicht helfen, Kim«, sagte Gorg. »Keiner von uns kann es.«

»Aber er stirbt!« schrie Kim, den Tränen nahe. »Der Tatzelwurm wird ihn töten.«

»Vielleicht«, sagte Gorg. »Aber hoffen wir, daß er noch fliehen kann. Er hat gesehen, daß wir in Sicherheit sind. Vielleicht kann er dieser häßlichen Schlange davonfliegen.«

Kim dachte an das letzte, kurze Aufblitzen von Gold hinter einem Vorhang kochenden Wassers, und er wußte, daß Gorg selbst nicht an seine Worte glaubte. Kims Verzweiflung wich langsam einer dumpfen Betäubung.