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»Ich weiß, was in dir vorgeht, Kim«, fuhr Gorg in sanftem Ton fort. »Und glaube mir - jeder von uns ist ganz genauso betroffen wie du. Aber Rangarig hat gewußt, worauf er sich einläßt. Und er wußte auch, daß er dem Tatzelwurm nicht gewachsen war.«

»Aber warum...« schluchzte Kim, »warum hat er...«

»Er mußte es tun«, sagte Gorg. »Es gab keinen anderen Weg für uns. Und er hat es gern getan. Ich würde das gleiche tun, wenn es sein müßte, und Kelhim und Priwinn ebenso. Jeder von uns würde sein Leben geben, um Märchenmond zu retten. Auch du, vergiß das nicht.«

»Aber Rangarig...«

»War dein Freund, ich weiß.«

Der Boden unter ihren Füßen erzitterte. Ein ungeheures Brüllen drang vom Höhleneingang herein. Dann plötzlich war Ruhe.

»Es ist vorbei«, murmelte Gorg. »Egal, wie es ausgegangen ist, keiner von uns kann jetzt noch etwas tun. Und vielleicht«, fügte er leise hinzu, »ist er ja entkommen. Bestimmt sogar.« Er schlug Kim aufmunternd auf die Schulter. »Komm jetzt weiter. Wir sind noch lange nicht am Ziel. Die anderen warten.«

Langsam, mit schleppenden Schritten ging Kim vor dem Riesen her. Es war ein schmaler Weg, der direkt neben dem kochenden Wasser an der Felswand entlangführte. Gorgs Hand lag die ganze Zeit auf Kims Schulter, um sofort zupacken zu können, wenn er auf dem glitschigen Boden ausglitt. Einen Sturz in das reißende Wasser des Flusses hätte er nicht überlebt.

Kelhim und der Steppenprinz warteten auf einem Felsvorsprung, der wie ein Balkon in das schäumende Wasser hineinragte und ihnen allen Platz bot.

Der Bär brummte leise und stieß Kim mit seiner feuchten Schnauze in die Seite, um ihn aufzumuntern.

»Laß mich«, sagte Kim grob. Er wußte, daß er Kelhim unrecht tat, aber er konnte plötzlich nicht anders; er mußte einem anderen weh tun, um seines eigenen Schmerzes willen. Kim erschrak über seine Reaktion und lächelte dem Bären um Entschuldigung bittend zu.

Priwinn berührte ihn zaghaft an der Schulter.

»Du darfst nicht verzweifeln«, sagte er leise. »Rangarig lebt, ich bin ganz sicher. Er lebt, solange du an ihn denkst.«

Kim hob den Kopf. Er lächelte matt und schloß die Augen. Ja, dachte er. Solange irgend jemand an den Drachen dachte, lebt er. Und er nahm sich vor, ihn nie, nie sterben zu lassen.

XV

Die Wand war nicht besonders hoch, aber das Sprühwasser, das den Felsendom wie Nebel ausfüllte und sich als eisiger Film über alles und jedes legte, machte den Abstieg zu einer lebensgefährlichen Kletterei. Der Stein war feucht und glitschig, so daß Hände und Füße kaum Halt fanden. Kim überzeugte sich vor jedem Tritt davon, daß seine Füße und seine rechte Hand sicher in der Wand verankert waren, ehe er vorsichtig die Linke löste und mit klammen Fingern nach winzigen Unebenheiten und Rissen im Fels tastete. Seine Muskeln waren verkrampft, und nach etwa zehn Minuten war er bereits erschöpft und am Ende seiner Kräfte. Dabei hatte er noch nicht einmal die Hälfte des Abstiegs geschafft. Er verhielt einen Moment, rang keuchend nach Atem und blickte nach unten. Das schmale Felsband lag knapp zehn Meter unter ihm. Gorg und Priwinn waren bereits unten angelangt und schauten besorgt zu ihm hinauf. Der Riese formte mit den Händen einen Trichter vor dem Mund und rief etwas. Aber das Tosen der Wassermassen, die neben ihnen in die Tiefe stürzten, verschlang seine Worte.

Kim wußte, was Gorg ihm sagen wollte. Er war bei seiner Kletterei zu weit nach links geraten. Etwas weiter rechts war der Weg einfacher, aber Kim hatte weder die Kraft noch den Mut, noch einmal ein Stück die Wand hinaufzuklettern. Und so tastete er sich Zentimeter für Zentimeter weiter, bis er schließlich tief genug war, daß Gorg mit ausgestreckten Armen seine Hüften umfassen konnte.

»Laß los!« rief Gorg.

Kim gehorchte mit einem Seufzer der Erleichterung. Gorg klaubte ihn wie ein Spielzeug von der Wand und stellte ihn behutsam vor sich auf den Boden.

»Alles in Ordnung?«

Gorg brüllte es, trotzdem waren die Worte über dem Dröhnen des Wassers kaum zu verstehen. Kim nickte und blickte dann, dem Beispiel der beiden anderen folgend, nach oben.

Seit beinah zwei Tagen (oder jedenfalls lange genug, um zweimal bis zur Erschöpfung durch dieses unterirdische Labyrinth zu irren) folgten sie jetzt dem Verschwundenen Fluß, und der Weg war nie ganz problemlos gewesen. Aber diese vergleichsweise harmlose Felswand konnte ihnen - zumindest einem von ihnen - leicht zum Verhängnis werden.

»Nun?« brüllte Gorg. »Wie sieht's aus?«

Kim hätte geschworen, daß seine Stimme dort oben nicht mehr zu hören sei. Trotzdem erschien kurz darauf ein struppiger, einäugiger Kopf über dem Felsrand. Kelhim brummte eine Antwort, die sie zwar nicht verstanden, deren Sinn ihnen jedoch klar war. Der Bär war dem Pfad, der sie bis zu diesem Felsabbruch geführt hatte, weiter gefolgt, in der Hoffnung, die Wand umgehen zu können. Offensichtlich erfolglos. Auch ohne Verletzung wäre der Abstieg über die Wand für den Bären praktisch unmöglich gewesen. Die Wunde hatte sich zudem noch entzündet, so daß die Schmerzen in der Schulter fast unerträglich waren und ihm das Gehen auf ebenem Grund schon schwerfiel. Der Pfeil war zwar nicht vergiftet gewesen, aber es schien auch so etwas wie eine negative Umkehrung der phantastischen Heilkräfte Märchenmonds zu geben. Jedenfalls versagte jeder Versuch, dem Bären Linderung zu verschaffen. Die Wunde wollte nicht heilen.

Gorg ballte in stummer Wut die Fäuste. »Wenn wir wenigstens ein Seil hätten«, murmelte er. »Irgend etwas, um ihn daran herunterzulassen.« Er starrte den tosenden Wasserfall an, als würde er ihm die Schuld an ihrer verzweifelten Lage geben.

»Tretet zur Seite!« rief Kelhim von oben. »Ich springe!«

Gorg tippte sich unmißverständlich an die Schläfe und blieb ungerührt stehen. »Du bist verrückt!« rief er zurück. »Du wirst dir alle Knochen brechen!«

»Ich breche höchstens dir deinen Dickschädel, wenn du nicht aus dem Weg gehst!« brüllte Kelhim gereizt. »Mach Platz! Es sind lächerliche zehn Meter!«

Gorg zögerte noch. Aber jeder von ihnen wußte, daß Kelhim schließlich keine andere Wahl blieb. Es gab kein Zurück. Selbst wenn es dem Bären gelang, zur Klamm der Seelen zurückzufinden, würde er niemals an dem Ungeheuer vorbeikommen, das dort lauerte. Ganz davon abgesehen, daß Kelhim viel zu schwach war, die ganze Strecke noch einmal zu gehen.

Der Bär näherte sich vorsichtig der Kante, schnupperte in die Luft und hob dann gebieterisch die Tatze. Gorg trat seufzend zur Seite. Hinter ihnen donnerte der Wasserfall in die Tiefe; so tief, daß das Wasser in einem schwarzen, lichtlosen Abgrund zu verschwinden schien. Es mußte mit ungeheurer Wucht unten aufprallen. Der massive Fels unter ihren Füßen zitterte kaum merklich, und wenn man genau hinhörte, konnte man über dem Tosen der Wassermassen ein dumpfes Grollen hören.

Es war nicht der Sprung, der Gorg Sorgen bereitete. Kelhim war sicher schon aus größerer Höhe hinabgesprungen, bei seiner Körpergröße stellten die zehn Meter wohl nur einen besseren Hopser für ihn dar. Aber - und das war das gefährliche daran - der Sims war kaum anderthalb Meter breit und noch dazu etwas abfallend und glitschig vor Feuchtigkeit. Kelhims Verletzung mit eingerechnet, standen seine Chancen, heil unten anzukommen, alles andere als gut.

Kim wurde abrupt aus seinen Überlegungen gerissen. Kelhim trat entschlossen vor und ließ sich über die Kante fallen. Für den Bruchteil einer Sekunde schien er bewegungslos in der Luft zu hängen. Dann stürzte er ab, rollte sich noch im Flug zu einem riesigen pelzigen Ball zusammen und schlug mit fürchterlicher Wucht am Boden auf. Sein Schmerzensschrei mischte sich mit dem Donnern des Wasserfalls. Kelhim rollte weiter auf den Abgrund zu und suchte verzweifelt nach Halt. Für einen schrecklichen Augenblick drohte er vollends abzurutschen. Gorg sprang vor, verkrallte die Hände im Nackenfell des Bären und zerrte ihn mit äußerster Kraftanstrengung zurück.