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Kelhim brach mit einem wimmernden Laut zusammen. Die Wunde an seiner Schulter brach wieder auf, und dunkles Blut mischte sich in die hellen Wassertropfen auf seinem Fell.

Gorg kniete neben dem Freund nieder und berührte sanft, fast zärtlich seine Tatze. Kelhim brummte. Zum ersten Mal, seit Kim den Bären kannte, hörte sich seine Stimme wackelig an.

Zu dritt halfen sie Kelhim, auf die Füße zu kommen.

»Legen wir eine Pause ein«, schlug Priwinn vor. »So kann er auf keinen Fall weitergehen.«

Kelhim schüttelte ärgerlich den Kopf. »Wenn ich mich jetzt hinlege, komme ich nie wieder hoch«, sagte er bestimmt. »Wir müssen weiter. Allmählich habe ich die Nase voll von Höhlen und unterirdischen Gängen. Ich weiß kaum noch, wie freier Himmel aussieht.«

Kim sah den Bären voll Mitleid an. Kelhims munterer Ton sollte sie darüber hinwegtäuschen, wie elend ihm zumute war. Aber ein wenig spürten sie es wohl alle. Sie hatten Schlimmeres durchgestanden, auf dem Weg nach Caivallon und später von Gorywynn hierher, aber mehr als die körperliche Belastung zerrten die Dunkelheit und das unablässige Grollen und Tosen des Wassers an ihren Nerven. Kim fror. Er fror unablässig seit zwei Tagen, und schlimmer noch als die Kälte setzte ihm die allgegenwärtige Feuchtigkeit zu, die erbarmungslos unter seine Kleidung, ja unter die Haut bis in den Körper hineinkroch. Kim hatte das Gefühl, von einer Kälte ausgefüllt zu sein, die nichts, auch das heißeste Feuer nicht, je wieder vertreiben konnte.

Der Sims fühlte steil in die Tiefe und lief schließlich in ein trapezförmiges, weit überhängendes Felsstück aus, von dessen Ende eine Art natürlicher Treppe weiter hinabführte. Kim lugte vorsichtig über die Kante, und Schwindelgefühl erfaßte ihn. Sie mußten inzwischen ein gutes Stück tiefer gekommen sein, denn er konnte jetzt bis auf den Grund hinuntersehen. Der Wasserfall stürzte in einen schwarzen, annähernd kreisrunden See, über dem sich eine gigantische Halbkugel aus Schaum und Gischt mehr als hundert Meter in die Höhe wölbte. Das Donnern der Wassermassen war nun so laut geworden, daß eine stimmliche Verständigung nicht mehr möglich war. Kim stupste Gorg mit dem Ellbogen an und deutete nach unten. Der Riese nickte kurz. Er warf dem Bären einen besorgten Blick zu und begann als erster mit dem Abstieg.

Sie kamen besser voran als erwartet. Der Fels bildete tatsächlich eine Treppe, und seine Oberfläche war hier so rauh, daß sie sicher auftreten konnten. Trotzdem dauerte es noch länger als eine Stunde, ehe sie schließlich am Ufer des unterirdischen Sees standen. Seltsamerweise war der Lärm hier unten, unmittelbar an der Quelle seiner Entstehung, nicht so unerträglich laut wie weiter oben. Der Felskamin, durch den sie abgestiegen waren, mußte den Schall irgendwie ablenken oder auch verstärken.

Kim blickte nachdenklich über die brodelnde Oberfläche. Dieser See war weitaus größer als jener, in dem der Tatzelwurm hauste. Der Abfluß war mehr als hundert Meter breit und unabsehbar tief. Ein richtiger Strom, der hier tief unter der Erdoberfläche dahinfloß. Kim kniete nieder und streckte vorsichtig den Finger ins Wasser. Es war wärmer, als er erwartet hatte, und von der ehemals reißenden Strömung des Verschwundenen Flusses war nichts mehr geblieben.

Kim stand auf, kniff die Augen zusammen und versuchte dem Stromverlauf mit Blicken zu folgen. Es herrschte das gleiche eigenartige, grünliche Licht, das sie schon die ganze Zeit begleitete und für das sie bis jetzt noch keine Erklärung gefunden hatten. Nur war das Licht hier unten viel schwächer als oben. Alles, was mehr als schätzungsweise fünf Meter weit entfernt war, konnte man nur noch schemenhaft erkennen. Eigenartigerweise konnten sie die riesige Höhle dennoch in ihrer vollen Breite überblicken. Es war, dachte Kim verwirrt, als ob zwar die Intensität des Lichtes, nicht aber das Licht selbst nachließe.

»Und was jetzt?« sprach Priwinn die Frage aus, die sie alle bewegte.

Gorg hob hilflos die Schultern. »Ich weiß es nicht. Niemand, der schon einmal so weit vorgedrungen ist, ist je wieder zurückgekehrt.«

Kim bezweifelte das. Wäre es so, wie der Riese sagte, wüßte auch niemand, was nach dem Verschwundenen Fluß kam; und die Kunde von der Eisigen Einöde, von der Burg Weltende und all den Gefahren, die sie noch erwarteten, wäre nicht bis Gorywynn gedrungen. Aber er sagte nichts.

Sie umrundeten einmal den See, um sich davon zu überzeugen, daß es keinen zweiten Ausgang aus der Höhle gab und sie nicht womöglich so kurz vor dem Ziel noch den falschen Weg wählten. Dann drangen sie hintereinander in den niedrigen Stollen ein, durch den die Wassermassen abflossen. Die Decke war glatt gewölbt und so niedrig, daß Gorg weit vornübergebeugt gehen mußte, um sich nicht den Schädel anzuschlagen. Kim glaubte das Gewicht der Tonnen und Abertonnen schwarzer Felsen, die sich über ihnen türmten, fast körperlich zu spüren. Obwohl der Weg hier so breit war, daß sie bequem nebeneinander gehen konnten, bekam er Platzangst, ein Gefühl, als würden sich Decke und Wände unaufhaltsam um ihn zusammenziehen und ihm den Atem abschnüren.

Der Weg wurde allmählich wieder schmaler, und aus dem Fluß ragten jetzt immer öfter spitze Felsen, an denen sich das Wasser zu kleinen Schaumbergen oder winzigen Strudeln brach.

»Es kann nicht mehr weit sein«, brummte Kelhim. »Nicht mehr weit.«

Gorg nickte zustimmend. »Wir sollten noch einmal rasten«, schlug er vor.

»So kurz vor dem Ziel?«

»Gerade so kurz vor dem Ziel. Wir alle sind müde, und wer weiß, was uns auf der anderen Seite des Gebirges erwartet. Vielleicht ist es besser, wenn wir ausgeruht dort ankommen.«

Niemand hatte etwas gegen den Vorschlag einzuwenden. Sie waren wirklich zum Umfallen müde. Und der Riese hatte recht. Der Fluß würde sein unterirdisches Bett nun bald verlassen; da war es besser, wenn sie frisch und kräftig waren. Vielleicht mußten sie fliehen, vielleicht kämpfen - wer weiß.

Sie wichen bis zur Höhlenwand zurück und legten sich nebeneinander zum Schlafen nieder. Das Rauschen des Wassers war auch hier noch überlaut. Aber trotz des Lärms und der klammen Kälte schliefen sie fast augenblicklich ein.

Kim hatte das Gefühl, noch keine fünf Minuten geschlafen zu haben, als ihn jemand unsanft an der Schulter rüttelte und gleich darauf die Hand auf seinen Mund preßte, damit er nur ja keinen Laut von sich gab.

Kim fuhr hoch und blickte verwirrt in Priwinns Gesicht. Der Steppenprinz zog langsam die Hand zurück und legte den Finger auf die Lippen.

Kim nickte verstehend. »Was ist?« fragte er im Flüsterton.

Priwinn deutete mit dem Daumen über die Schulter zurück. »Jemand kommt«, zischte er. »Sieht aus, als würden wir verfolgt.«

»Schwarze?« fragte Kim erschrocken.

Priwinn zuckte die Schultern. »Gorg ist zurückgegangen, um nachzusehen«, flüsterte er. »Aber bereiten wir uns lieber auf eine schnelle Flucht vor.«

Kim stand unverzüglich auf, schnallte sein Schwert um und befestigte den Schild an seinem linken Arm. Er zögerte einen Moment. Dann zog er die Klinge aus der Scheide und reichte sie Priwinn.

»Was soll ich damit?«

»Dich wehren. Du hast keine Waffe.«

Der Steppenprinz reichte ihm lächelnd das Schwert zurück und schüttelte den Kopf. »Das brauche ich nicht.«

»Ich weiß«, sagte Kim. »Ich habe gesehen, wie du in der Klamm gekämpft hast, auch ohne Waffe. Aber...« Priwinn schnitt ihm mit einer unwilligen Handbewegung das Wort ab. »Du mißverstehst mich. Wir benutzen keine Waffen. Keiner von uns.«

»Du meinst...«

»Ich meine, daß kein Steppenreiter jemals eine Waffe in die Hand nehmen würde«, erklärte Priwinn. »Wir haben gelernt, uns auch so zu verteidigen. Wir verachten Waffen, und wir verachten die, die Waffen tragen.«