Sie standen eine Zeitlang am Fuße der Geröllhalde und hingen schweigend ihren Gedanken nach; jeder für sich und froh, daß auch die anderen schwiegen.
Schließlich verlor Gorg die Geduld. »Ich werde nach Kelhim sehen«, sagte er. »Dieser hoffnungslose Tolpatsch bringt es fertig und läßt sich noch fangen.« Natürlich wollte er mit diesen rauhen Worten nur seine Sorge um den Freund übertünchen. Er machte kehrt und begann den Hang wieder hinaufzuklettern.
Gorg war erst wenige Meter weit gekommen, als der Bär schnaufend und keuchend oben auftauchte und in einer Lawine aus Staub und Steinen den Hang herunterhetzte. »Sie kommen!« brüllte er. »Die Schwarzen kommen!«
Der Riese brachte sich mit einem Satz vor dem heranpreschenden Bären und der Steinlawine in Sicherheit. »Wenn du noch lauter schreist«, knurrte er, »brauchen sie uns nicht einmal zu suchen.«
»Weg!« rief Kelhim. »Bloß weg hier! Sie sind gleich da.«
»Immer mit der Ruhe«, sagte Gorg, die Keule über die linke Schulter geschwungen und das Kinn kampflustig vorgereckt. »Was heißt gleich? Und wie viele sind es?«
Kelhim schnaubte ärgerlich. »Gleich heißt gleich. In wenigen Augenblicken. Sie haben mich gesehen, glaube ich. Und wie viele es sind? Ich habe sie nicht gezählt, aber jedenfalls sind es mehr, als wir vertragen können. Außerdem sind sie uns mit ihren Pferden hier überlegen.«
»Sie haben ihre Pferde mitgebracht?« fragte Kim ungläubig. »Ja. Und frag mich nicht, wie. Ich kann es mir selbst nicht erklären. Sie müssen sie abgeseilt haben, oder was weiß ich. Und jetzt kommt.« Damit wandte er sich dem Ausgang zu und humpelte, so schnell er konnte, vor den anderen her am Flußufer entlang.
Kims Gedanken überschlugen sich. Pferde? Hier unten? Schon für sie war es eine Tortur gewesen, dem unterirdischen Verlauf des Flusses zu folgen; was erst für einen ganzen Troß mit Pferden und in voller Rüstung... Aber er hatte ja selbst erlebt, wie unbarmherzig Kart seine Leute vorantrieb. Menschenleben spielten für ihn keine Rolle.
Ein wütender Schrei mischte sich in das Tosen des Wassers. Kim sah sich im Laufen um und erschrak. Am oberen Ende der Geröllhalde war eine hochgewachsene, ganz in Schwarz gekleidete Gestalt aufgetaucht, und in der Dunkelheit hinter ihr bewegten sich weitere schwarze Gestalten.
Kim zog unwillkürlich den Kopf ein, als der Mann einen scharfen Befehl ausstieß und ein Hagel schwarzer Pfeile von oben auf sie herabsirrte. Aber sie waren schon außer Reichweite. Die Geschosse prallten harmlos gegen die Felsen oder verschwanden im Wasser.
Jetzt tauchte oben der erste Reiter auf, dann noch einer und noch einer, bis schließlich die ganze Höhle von schnaubenden, unruhig auf der Stelle tänzelnden Pferden erfüllt zu sein schien. Ein knapper Befehl, und der erste Reiter trieb sein Roß vorsichtig den Hang hinunter. Das Tier wieherte ängstlich und warf den Kopf zurück, aber sein Reiter zwang es unbarmherzig weiter. Ein zweiter folgte ihm, dann, als wäre die Dunkelheit selbst zum Leben erwacht, folgte der ganze Heereszug, über hundert Reiter, wie Brobing gesagt hatte. Eines der Pferde verlor auf dem unsicheren Grund den Halt und begrub im Stürzen seinen Reiter unter sich. Eine Geröllawine polterte herab, riß mehrere Reiter mit sich und erschlug Menschen und Tiere. Aber der Vormarsch kam nur für Sekunden ins Stocken.
»Schneller!« brüllte Gorg. Mit einem Satz war er neben Priwinn, hob den Prinzen wie eine Stoffpuppe hoch und setzte ihn auf Kelhims breiten Rücken. Der Bär brummte, als Priwinn seine verletzte Schulter berührte, griff dann aber schneller aus und sprengte beinah mit der Geschwindigkeit eines Pferdes davon. Gorg packte den erschöpften Brobing und schwang ihn sich über die Schulter, und dann fühlte auch Kim sich von einer riesigen Hand gepackt und wie ein lebloses Bündel unter den Arm des Riesen geklemmt. Gorg rannte los, so schnell, daß Kim fast schwindelig wurde. So holten sie auch den Bären wieder ein. Aber Kim war klar, daß weder der Bär mit seiner verletzten Schulter noch der Riese mit seiner doppelten Last dieses Tempo lange durchhalten konnte.
Wieder zischte ein Hagel schlanker schwarzer Pfeile durch die Luft; noch immer zu kurz, so daß keines der Geschosse in gefährliche Nähe kam, aber schon merklich dichter als die erste Salve. Die ersten Reiter hatten den Fuß der Halde erreicht und setzten unverzüglich zur Verfolgung an. Die Tiere kamen auf dem rissigen und mit Steinen und spitzen Zacken übersäten Boden nicht gut voran; dennoch stand außer Zweifel, daß sie ihre Geschwindigkeit länger und müheloser halten konnten als ihre Opfer. Gorg beschleunigte seine Schritte noch mehr, aber er keuchte bereits heftig und stolperte immer öfter über irgendein Hindernis am Boden, um sich nur mit Mühe wieder zu fangen.
»Kim!«
Kims Kopf ruckte hoch. Diese Stimme. Es war nicht Priwinns Stimme oder die eines der anderen. Aber er kannte sie!
»Kim! Riese! Zurück zum Fluß!«
Gorg gehorchte automatisch. Mitten im Lauf warf er sich herum, übersprang eine fast zwei Meter hohe Felsbarriere und kam dicht neben dem Bären wieder auf dem felsigen Grund auf.
»Runter!«
Wieder gehorchten sie, instinktiv und ohne zu überlegen. Donnergrollen erfüllte mit einem Mal die Höhle, brach sich an der hohen Decke und ließ die Felsen beben. Die Oberfläche des Flusses schien zu zittern. Für einen winzigen Moment kam die Strömung zum Stillstand, dann bäumten sich die Wasser wie unter einer ungeheuren Spannung auf. Ein dumpfer Schlag folgte. Wasser spritzte schäumend zehn, fünfzehn Meter empor, regnete auf Flußbett und Ufer zurück und barst erneut auseinander. Graue, schaumgekrönte Wellen schwappten über den Uferstreifen, benetzten den Felsen und leckten nach den Füßen der heranpreschenden Pferde. Aber wenn die Reiter die Gefahr bemerkten, so ignorierten sie sie. Unbeirrt trieben sie ihre Tiere vorwärts, auch als auf die erste Welle eine zweite, mächtigere folgte und das Wasser geheimnisvoll zu kochen und zu brodeln begann.
»Dort!« rief Gorg aufgeregt. »Seht doch!«
Ihre Blicke folgten seinem ausgestreckten Arm. In der Mitte des Flusses begann sich das Wasser zu drehen. Schneller und immer schneller wirbelte es im Kreis, formte sich zu einem Trichter, dessen Zentrum tiefer und tiefer sank, bis der halbe Fluß von diesem gewaltigen strudelnden Sog ausgefüllt schien. Ein ungeheures Dröhnen marterte ihre Ohren. Kim preßte die Hände an den Kopf, verzog schmerzhaft das Gesicht und starrte aus tränenerfüllten Augen zu den näher kommenden Reitern hinüber. Es war nur eine kleine Gruppe, die dem Hauptheer vorausgeeilt war, vielleicht zehn, zwölf Mann, und ihre Gestalten waren hinter dem Sprühregen, der von der kochenden Wasserfläche ausging, kaum zu erkennen.
Und dann explodierte der Fluß.
Jedenfalls hatte Kim im ersten Moment den Eindruck, als ob der gesamte Fluß unter einer ungeheuerlichen Explosion auseinanderbarst und sich aus seinem Bett erhob. Die Höhle wankte. Steine regneten von der Decke, und als sich der Schaumnebel über dem Fluß verzogen hatte, sahen sie eine gigantische, glitzernde Wasserwand, die mit urgewaltigem Brüllen auf das Ufer und die vor Schreck erstarrten Reiter zuraste. Die Männer versuchten noch, ihre Tiere herumzureißen und aus der Gefahrenzone zu entkommen, aber zu spät. Die Welle donnerte heran, spülte über das Ufer und verschlang Pferde und Reiter, ehe sie sich gischtend an den Felsen brach.
Kim zog den Kopf ein, rollte sich zusammen und wartete mit angehaltenem Atem, bis die Flut über ihre Deckung hinweggerollt war. Der Felsen hatte dem Wasser den größten Teil seiner Wucht genommen, trotzdem hatte Kim den Eindruck, als ob tausend Hämmer mit vernichtender Kraft auf seine Rüstung einschlügen. Keuchend und mühsam nach Atem ringend, kam er wieder hoch, stolperte auf die Beine und hielt nach den anderen Ausschau. Sie waren genauso überrascht und durchgeschüttelt wie er, aber keiner schien ernstlich verletzt zu sein.
»Was... was war das?« fragte Priwinn.