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Statt einer Antwort deutete Kim stumm den Fluß hinunter. Vor ihnen, etwa halbwegs zwischen ihrer Deckung und dem Höhlenausgang, ragte eine schlanke Felsnadel aus dem tobenden Wasser. Zwei kleine, weißgekleidete Gestalten zeichneten sich gegen das trübe Licht in der Öffnung ab.

»Wer ist das?«

»Ado«, antwortete Kim. »Ado und sein Vater, der Tümpelkönig.«

»Du kennst die?«

»Ja. Ich traf sie... vor langer Zeit. Aber ihre Anwesenheit hier überrascht mich genauso wie euch.« Kim wollte noch mehr sagen, doch in diesem Moment drang Ados Stimme erneut über das Dröhnen des Flusses zu ihnen.

»Flieht! Ihr seid in Gefahr! Verlaßt die Höhle! Wir folgen euch!«

Ohne eine Sekunde zu zögern, brachen sie aus ihrer Deckung hervor und rannten los. Kim sah sich gehetzt um. Von dem Reitertrupp, der sie verfolgt hatte, war keine Spur mehr zu entdecken. Der Fluß hatte ihn verschlungen. Aber damit war die Gefahr noch nicht überstanden. Neue Reiter formierten sich, ungeachtet des Schicksals, das ihren Kameraden widerfahren war, zu einer tiefgestaffelten Angriffsreihe. »Nach links!« rief Ado. »Weg vom Fluß!«

Die fünf gehorchten. Der Boden war direkt am Ufer glatt und besser begehbar als der felsige Grund dahinter; aber der Anblick der kochenden Wasserwand, die die Reiter verschlungen hatte, stand noch deutlich vor ihren Augen.

Wieder begann der Fluß zu kochen und zu brodeln, und wieder entstand in seiner Mitte ein zischender, sich immer schneller um sich selbst drehender Strudel. Kim stolperte über einen Felsen, schlug der Länge nach hin und sah sich noch im Aufstehen nach den Verfolgern um. Die Reiter hatten die drohende Gefahr erkannt und zügelten ihre Tiere. Einen Augenblick lang wirkten sie unentschlossen, und Kim begann schon zu hoffen, daß sie sich zurückziehen würden. Aber dann erschien auf dem Hang oben ein einzelner, riesenhafter Mann in schimmerndem Schwarz. Die Soldaten fuhren entsetzt herum und preschten weiter. Selbst der sichere Tod schien sie nicht davon abhalten zu können, Baron Karts Befehle auszuführen.

Kim und seine Freunde rannten weiter, liefen im Zickzack auf den Höhlenausgang zu, während hinter ihnen das Unheil ein zweites Mal über die schwarzen Reiter hereinbrach. Die Höhle hallte wider von den verzweifelten Schreien der Männer und ihrer Tiere und dem Grollen des Wassers.

Wetterleuchten umspielte die Felsnadel, auf der der Tümpelkönig stand. Die Luft roch plötzlich scharf und metallisch, wie nach einer starken elektrischen Entladung, und eine Linie kleiner blauer Flammen lief mit phantastischer Geschwindigkeit über die Wasseroberfläche auf die Reiter zu. »Lauft!« rief Ado ihnen über das Toben des Wassers zu. »Lauft um euer Leben!« Er federte kurz in den Knien und sprang dann mit einem behenden Satz ins Wasser. Wie ein Fisch schoß er dicht unter der Wasseroberfläche ans Ufer, warf sich mit weit ausgebreiteten Armen an Land und stürmte auf Kim und den Riesen zu. »Schnell«, rief er. »Vater kann sie nicht mehr lange aufhalten, ohne die Seegeister zu beschwören!«

Kim verstand kein Wort, aber nach allem, was er in den letzten Minuten erlebt hatte, schien es ihm angeraten, Ados Rat zu befolgen. Sie rannten weiter, stolperten über Felsen, sprangen über Risse und rasiermesserscharfe Grate und erreichten schließlich, nach einer scheinbaren Ewigkeit, den Ausgang. Ein weites, felsiges Tal breitete sich vor ihnen aus. Kim wollte sich umdrehen, um nach dem Tümpelkönig zu sehen, aber Ado riß ihn vom Höhlenausgang fort und zerrte ihn hinter einen Felsbuckel in Deckung. Kim hatte nur einen flüchtigen Blick erhaschen können: eine schmale, verwundbare Gestalt, die trotz ihrer gebeugten Schultern hoch aufgerichtet auf der Spitze der Felsnadel stand und blaues Feuer in die Tiefe der Höhle schleuderte. Und noch etwas war da gewesen, etwas, was Kim nicht richtig hatte erkennen können, was ihn aber dennoch schaudern ließ. Etwas Großes, Brodelndes, Mächtiges.

Der Boden begann zu zittern. Ein dumpfer Donnerschlag rollte aus der Höhle heraus und brach sich an den Felsen. Plötzlich hob sich der Boden, sackte mit einem Schlag wieder zurück und begann zu springen und zu schütteln wie ein bockendes Pferd. Ein ungeheures Brüllen drang aus dem Höhlenausgang. Und dann schoß eine schäumende Flutwelle aus dem Berg, Menschen, Tiere und Felstrümmer mit sich reißend und das Ufer in weitem Umkreis überflutend. Noch lange, nachdem die Flutwelle sich verlaufen hatte und ihr Donnern verklungen war, dröhnte und klingelte es in Kims Ohren. Vorsichtig, jederzeit auf eine zweite Flutwelle und die damit verbundene Erschütterung gefaßt, richtete er sich auf und blickte zum Höhlenausgang zurück. Der Fluß hatte sich beruhigt; noch immer kräuselten schaumige Wellen seine Oberfläche, und ab und zu trieb ein schwarzer, formloser Umriß mit dem Wasser heraus. Aber das Schlimmste schien vorüber zu sein.

Kim riß sich gewaltsam von dem Anblick los und drehte sich zu Ado um, der mit unbewegtem Gesicht auf das schäumende Wasser starrte.

»Danke«, sagte Kim einfach. Vielleicht wären jetzt größere Worte angebracht gewesen, aber Kim war noch viel zu benommen von dem Geschehen, um eine wohlgesetzte Dankesrede zu halten.

Ado lächelte, wurde jedoch gleich wieder ernst. »Du brauchst dich nicht zu bedanken«, murmelte er, ohne den Blick vom Wasser zu nehmen. »Das habe ich mir schon lange gewünscht.«

Allmählich fanden sich auch die anderen, die beim Hervorschießen der Flutwelle hinter den Felsen Schutz gesucht hatten, wieder ein. Ado betrachtete den Riesen mit einer Mischung aus Furcht und Bewunderung, wandte seine Aufmerksamkeit dann dem Bären und zum Schluß wieder Kim zu.

»Ist der Drache nicht mehr bei euch?« fragte er.

Gorg runzelte verwundert die Stirn. »Du weißt von Rangarig?«

Ado nickte. »Man hat uns von ihm erzählt.«

Kim beantwortete schweren Herzens Ados Frage. Dann konnte er seine Ungeduld nicht länger bezähmen und bestürmte seinerseits Ado mit Fragen. »Wo kommt ihr her? Wie habt ihr uns gefunden? Und was hat euch überhaupt veranlaßt, uns zu folgen?«

Ado hob abwehrend die Hände. »Nicht alles auf einmal, Kim. Es ist eine lange Geschichte. Laß mich erst einmal Atem schöpfen.«

»Natürlich«, nickte Kim. Ado mußte genauso erschöpft sein wie sie. Wenn nicht noch mehr. »Ruh dich erst einmal aus. Wir alle«, fügte er hinzu, »sollten ein wenig rasten.«

Die Sonne stand im Zenit. Es war Mittag, aber ihre Körper hatten sich während des fast dreitägigen Marsches durch das unterirdische Labyrinth an einen anderen Rhythmus gewöhnt und verlangten nach Ruhe. Doch Gorg schien nicht geneigt, ihnen jetzt schon eine Pause zu gönnen. Er schaute noch einmal zum Höhlenausgang zurück und schüttelte den Kopf.

»Weiter unten am Fluß ist es sicherer«, murmelte der Riese. »Zwei, drei Stunden sollten wir noch gehen. Mir behagt der Gedanke nicht, so nahe am Höhlenausgang zu rasten.«

Sie einigten sich darauf, nur kurz zu verschnaufen und dann zügig weiterzugehen. Kim fügte sich seufzend, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, daß irgend jemand das Chaos, das der Tümpelkönig entfesselt hatte, überlebt haben sollte. »Wie seid ihr über die Schattenberge gekommen?« versuchte er es noch einmal, Ado zum Erzählen zu bewegen, nachdem dieser sich endlich vom Anblick des Flusses losgerissen hatte. »Es war einfacher, als ich dachte«, murmelte Ado. »Das Ganze kam so. Nachdem du verschwunden warst, rückten uns die Schwarzen auf den Leib. Boraas mußte irgendwie erfahren haben, daß du bei uns - oder wenigstens im Wald - gewesen bist. Schließlich kam er höchstpersönlich, drei Tage nachdem du gegangen warst. Zusammen mit Baron Kart.« Kim erschrak. »Haben sie euch etwas angetan?«

Ado schüttelte den Kopf. »Nein. Sie kamen in der Morgendämmerung. Sie haben lange mit Vater geredet. Ich weiß nicht, was sie gesprochen haben, aber als sie auseinandergingen, war Vater sehr nachdenklich. Zwei Tage lang sprach er kein Wort, schlief nicht, saß nur die ganze Zeit da und grübelte.« Er seufzte, lehnte sich gegen einen Felsen und schlang die Arme um die Knie. Er fröstelte, und auf seinen nackten Unterarmen erschien eine Gänsehaut.