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»Und dann«, fuhr Ado nach einer Weile fort, »sagte mir mein Vater, daß wir weggehen müßten. Ich glaube, Boraas und Baron Kart haben ihm gedroht. Oder irgend etwas von ihm verlangt, was er nicht tun konnte. Wir brachen noch am gleichen Abend auf.«

»Über die Berge?«

Ado lächelte. »Nein. Wir kamen auf einem ähnlichen Weg nach Märchenmond wie du. Unter dem Gebirge hindurch. Der Verschwundene Fluß entspringt nicht in den Schattenbergen, wie ihr glaubt. Er entspringt noch im Reich der Schatten, wo er ebenfalls meist unterirdisch fließt, ehe er dann das Gebirge durchquert. Einen Tag und eine Nacht mußten wir schwimmen, um auf die andere Seite zu gelangen.«

»Dann hat dein Vater den Weg schon immer gekannt?« fragte Kim überrascht.

Ado nickte. »Ja. Aber du irrst, wenn du jetzt glaubst, daß er dich absichtlich ins Ungewisse geschickt hat. Der Weg, den wir nahmen, wäre für dich unmöglich gewesen. Oder kannst du zufällig vier Stunden unter Wasser schwimmen, ohne Atem zu holen?« fügte er spöttisch hinzu.

»Natürlich nicht«, sagte Kim beschämt. Einen Moment lang hatte er wirklich so etwas wie Zorn oder zumindest Verstimmung empfunden. »Erzähl weiter«, drängte er. »Was geschah dann?«

»Wir erreichten Caivallon, und...«

»Caivallon?« fiel ihm Priwinn ins Wort. »Ihr habt Caivallon gesehen?«

Ado sah ihn überrascht an. »Du kennst Caivallon?«

»Es ist meine Heimat. Mein Vater war der Herr von Caivallon, ehe die schwarzen Reiter kamen.«

»Du mußt Priwinn sein.«

Priwinn nickte ungeduldig. »Ja. Aber das spielt jetzt keine Rolle. Wie sieht es dort aus?«

Ado druckste eine Weile herum. »Es tut mir leid, Prinz«, sagte er dann. »Aber das Steppenschloß ist fast bis auf die Grundfesten niedergebrannt. Von seiner früheren Pracht ist nichts mehr geblieben. In den Ruinen lagern jetzt die schwarzen Reiter.«

Priwinn schluckte. Obwohl er das Flammenmeer mit eigenen Augen gesehen hatte, traf ihn die Wahrheit zutiefst. Er gab sich Mühe, seine Bewegung zu verbergen, aber es gelang ihm nicht ganz.

»Und dann?« fragte Gorg neugierig.

»Wir schwammen weiter nach Gorywynn. Es war nicht leicht, das Schloß zu erreichen. Überall wimmelte es von Boraas' Leuten.«

»Hat der Angriff schon begonnen?«

»Nein. Aber ich fürchte, er steht kurz bevor. Gorywynn ist eingeschlossen. Die Schwarzen haben einen weiten Belagerungsring um das Schloß gezogen. Niemand kann hinein, und niemand kann das Schloß verlassen. Ihr müßt im letzten Augenblick durchgeschlüpft sein.«

»Aber ihr kamt hinein?«

»Natürlich. Wir schwammen durch den Fluß und weiter durch den See, direkt unter den Booten der Schwarzen hindurch.«

»Und dann?«

»Der Rest ist rasch erzählt. Wir trafen auf Themistokles. Er und mein Vater kannten sich wohl von früher, obwohl Vater nie davon gesprochen hat. Wir erfuhren alles, auch von eurem Aufbruch und eurem Vorhaben. Und so beschlossen wir, euch zu folgen. Es war nicht schwer. Der Verschwundene Fluß brachte uns zu euch.«

»Genau im richtigen Moment«, sagte Kelhim. »Ein wenig später, und wir wären verloren gewesen.«

Ado nickte. Falsche Bescheidenheit war jetzt nicht angebracht. Er starrte eine Zeitlang zu Boden, stand dann ruckartig auf und deutete nach Westen.

»Gehen wir. Es ist keine Zeit mehr zu verlieren.«

»Aber wir müssen auf deinen Vater warten!« protestierte Kim.

Keiner der anderen antwortete. Es dauerte eine Weile, bis Kim begriff, daß sie nicht zu warten brauchten. Der Tümpelkönig würde nicht wiederkommen. Nie mehr.

XVI

Und weiter ging es. Weiter nach Westen, hinein in Kälte und Ungewißheit. Hier, unter freiem Himmel, wanderte es sich leichter, und obwohl das Tal mit Steinen und Felsbrocken aller Größe übersät war, kamen sie gut voran. Schon bald war der Höhlenausgang hinter ihnen verschwunden, und mit ihm verblaßte auch die Erinnerung an die überstandenen Torturen, bis nichts mehr blieb als die körperliche Erschöpfung und ein dumpfer Druck wie nach einem überstandenen Alptraum. Das Tal verflachte, und der Fluß wurde wieder breiter und ruhiger, um schließlich jenseits des Tales zwischen zwei sanften Hügelkuppen zu verschwinden. Sie rasteten auf halbem Weg. Hunger und Durst stellten sich wieder ein, aber es gab auch hier nichts Eßbares. Zwischen den Felsen wuchsen Moos und dürres Gestrüpp, auch ein paar Beeren, aber keiner von ihnen wagte es, davon zu kosten. Nur der Anblick der Hügelkette auf der anderen Seite des Tales gab ihnen noch Kraft. Dahinter lag die Ungewißheit, aber auch die Hoffnung auf eine warme Stube, ein Bett und etwas zu essen.

Die Sonne näherte sich dem Horizont, als sie die Hügel erreichten. Kelhim, der vor Schmerzen kaum noch gehen konnte, ließ sich ächzend am Flußufer nieder und bettete den Kopf auf die Tatzen. Die anderen folgten seinem Beispiel, nur Gorg eilte mit schier unerschöpflicher Energie den Hügel hinauf und war bald auf der anderen Seite verschwunden.

Kim sank müde zurück und schloß die Augen. Es war kalt, und der Wind, der von Osten her durch das Tal strich, brachte den Geruch nach Winter und Schnee mit sich. Aber hier am Flußufer waren sie einigermaßen geschützt, und die Sonne hatte noch genügend Kraft, ihre klammen Glieder aufzuwärmen und ihnen wieder Leben einzuhauchen.

Kim blieb einige Minuten lang reglos im Moos liegen, ehe er gewaltsam die Augen wieder öffnete und aufstand, um nach Kelhim zu sehen.

Der Bär schien das Bewußtsein verloren zu haben. Er lag auf der Seite, alle viere von sich gestreckt und ohne sich zu rühren. Nur gelegentliches Stöhnen zeigte an, daß noch Leben in ihm war.

Unsinn, dachte Kim zornig. So schnell starb man nicht. Erst recht nicht so ein Gigant wie Kelhim. Es war wohl mehr die Erschöpfung, die Kelhim übermannt hatte. Kim kniete neben dem Bären nieder und bemerkte erst jetzt, daß Ado auf der anderen Seite hockte und sich mit geschickten Fingern an der verwundeten Schulter zu schaffen machte.

»Kannst du ihm helfen?« fragte Kim.

»Nicht so, wie ich möchte«, gestand Ado. »Vater hätte ihm helfen können, da bin ich ganz sicher. Aber ich kann nicht viel für ihn tun. Außer vielleicht seine Schmerzen lindern, und auch das nur für eine Weile. Die Wunde sieht übel aus. Wie alt ist sie?«

»Drei Tage«, antwortete Kim.

Ado nickte. Er tat noch etwas an Kelhims Schulter, was Kim nicht genau erkennen konnte, und stand dann auf. »Lassen wir ihn schlafen«, sagte er, »wenigstens so lange, bis Gorg zurückkommt.«

Sie entfernten sich ein paar Schritte, um Kelhim nicht zu stören. Ado wies mit einer Kopfbewegung auf Priwinn, der sich ebenfalls auf dem harten Boden zusammengerollt hatte und zu schlafen schien.

»Ist er wirklich ein Prinz?« fragte Ado.

»Ja«, sagte Kim traurig. »Ein Prinz ohne Königreich, genau wie du.« Er zögerte einen Moment, ehe er die Frage aussprach, die ihn schon die ganze Zeit über bewegte. »Das, was dein Vater gemacht hat«, sagte er stockend, »mit dem Wasser, meine ich... was war das? Zauberei?«

Ado lächelte. Trotz allem, was Kim erlebt und von Priwinn und den anderen gehört hatte, irritierte ihn der Gleichmut, mit dem die Bewohner Märchenmonds den Tod akzeptierten, noch immer. Aber vielleicht, dachte er, und der Gedanke machte ihn fast froh, war es nur das Nichtwissen, das dem Tod seinen Schrecken verlieh. In seiner Heimat hatten die meisten Menschen noch nicht gelernt, den Tod als das zu betrachten, was er war: als einen Teil des Lebens.

»Zauberei?« Ado betonte das Wort in seltsamer Weise, so daß Kim daraus nicht klug wurde. »Vielleicht würdest du es so nennen. Ja, ich glaube, es ist Zauberei. Auch wenn ich es anders nenne.«

»Wie?«