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Ado lächelte wieder. Dann drehte er sich um und starrte eine Weile in den Fluß, als suche er dort Antwort auf Kims Frage. »Mein Vater war Seekönig, bevor Boraas kam«, erinnerte er. »Und nun bin ich es wohl«, fügte er leise hinzu, »auch wenn ich mich noch nicht an diesen Gedanken gewöhnt habe. Es... es gibt eine Verbindung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt, der Natur, wenn du so willst. Ich weiß nicht viel von eurer Welt, aber ich glaube, ihr betrachtet die Natur als etwas, was gerade gut war, euch zu erschaffen, und nun gerade gut ist, um sie euch dienstbar zu machen. Um sie auszubeuten, zu verdrehen und zu verändern, wie es euch beliebt.«

Kim wollte widersprechen, überlegte es sich dann aber anders. Vielleicht hatte Ado es ein wenig kraß ausgedrückt, doch es ließ sich nicht leugnen, daß es die Wahrheit war.

»Aber diese Einstellung ist falsch«, fuhr Ado fort. »Wir sind ein Teil der Natur, vielleicht nicht einmal ein wichtiger. Und wir sind mit ihr verbunden, stärker, als die meisten von uns ahnen. Es gibt Menschen, die diese Verbundenheit mehr spüren als andere, und unter diesen gibt es einige - einige wenige nur, aber es gibt sie -, die diese Verbundenheit auf besondere Art zu nutzen verstehen.«

Kim dachte eine Weile über Ados Worte nach. »Das, was dein Vater tat«, fragte er zögernd, »könntest du es auch?«

Ado schüttelte den Kopf. »Nein, jedenfalls jetzt noch nicht. Vielleicht werde ich es später einmal können. Aber ich bin mir dessen nicht sicher. Ich weiß nicht einmal, ob ich es will.«

Kim wollte noch mehr Fragen stellen, aber in diesem Moment kam Gorg zurück und ließ sich prustend zwischen ihnen nieder.

»Nun?«

»Der Fluß setzt sich drüben fort«, erklärte der Riese überflüssigerweise. »Es gibt ein paar Bäume. Keinen richtigen Wald, aber Bäume und Gras. Vielleicht finden wir etwas zu essen. Aber es ist kalt dort. Ich fürchte, es gibt bald Schnee.« Gorg schüttelte sich, als spüre er die Kälte selbst hier noch. Er setzte seine Keule wie einen Stab auf dem Boden auf und stemmte sich daran in die Höhe. »Gehen wir weiter«, murmelte er. »Wir wollen lieber drüben übernachten.«

Kim deutete auf Kelhim. »Er schläft. Ich finde, wir sollten ihn ausruhen lassen.«

Gorg überlegte kurz. »Er ruht drüben besser«, knurrte er. »Und sicherer.«

»Sicherer?«

Gorg nickte bekräftigend. »Wir haben uns schon einmal sicher gefühlt, kleiner Held«, erinnerte er. »Zu sicher. Ich möchte diesen Fehler nicht noch einmal begehen.« Er berührte den Bären sacht an der Schulter und schüttelte ihn sanft, bis Kelhim mit einem Brummen das Auge aufschlug. Gorg erklärte ihm seinen Vorschlag, und Kelhim erhob sich, ohne zu murren. Auch Brobing und der Steppenprinz standen gähnend auf und stapften gehorsam hinter Gorg den Hügel hinauf. Kim bildete den Schluß. Obwohl ihm jeder Schritt Mühe bereitete, konnte er die Beweggründe des Riesen gut verstehen. Auch ihm war dieses Tal unheimlich, und die Aussicht, endlich wieder einmal Grün, Gras und Bäume zu sehen, ließ ihn seine Müdigkeit fast vergessen.

Auf dem Kamm des Hügels angelangt, blieb Gorg stehen und wartete, bis ihn die anderen eingeholt hatten. »Dort unten«, sagte er, »unter den Bäumen am Ufer, scheint mir ein guter Lagerplatz zu sein.«

Kim nickte, ohne richtig hinzusehen. Seine Energie reichte gerade noch aus, um sich auf den Füßen zu halten. Und auch das wahrscheinlich nicht mehr lange.

»Nur noch ein kleines Stück«, sagte Gorg aufmunternd. Kim seufzte. Er gab sich einen Ruck und wankte hinter dem Riesen her den Hang hinab und weiter bis zu dem Platz unter den Bäumen. Kelhim ließ sich nahe am Ufer ins Gras sinken und schlief sofort wieder ein. Auch Kim machte es sich im Schatten eines Baumes bequem. Er war müde, unglaublich müde, aber schlimmer noch als die Müdigkeit war der Hunger. Für einen Moment wurde ihm übel, und ein bitterer Geschmack setzte sich in seinem Mund fest.

»Wir sollten Wachen aufstellen«, schlug Brobing vor.

»Ja«, sagte Gorg, »und ein Floß bauen. Der Fluß strömt zwar nicht sehr schnell, aber ich bin es allmählich leid, zu Fuß zu gehen. Leihst du mir dein Schwert?«

Kim brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, daß die Frage an ihn gerichtet war. Er reichte Gorg die Waffe, setzte sich auf und sah zu, wie der Riese mit erstaunlicher Geschwindigkeit eine Anzahl junger Bäume fällte und die dünneren Äste und Zweige einfach abbrach.

Dann überwältigte ihn wieder die Müdigkeit und umnebelte seine Gedanken. Kim ließ sich zurücksinken und streckte sich lang im Gras aus. Gorg hatte recht gehabt - es war hier merklich kühler als auf der anderen Seite der Hügelkette, und die Luft roch nach Schnee. Kim gähnte. Er wälzte sich auf die andere Seite und bettete in Ermangelung eines Kissens den Kopf auf den Arm. Die Sonne ging unter und zeichnete die runden Konturen der Hügel mit einem Flammenkranz nach. Kurz bevor er endgültig in den Schlaf hinüberdämmerte, glaubte Kim eine Bewegung auf dem Hügelkamm wahrzunehmen, nicht mehr als ein flüchtiger Schatten, der sich für den Bruchteil einer Sekunde vor die Sonne schob und wieder verschwand.

Der Schatten eines hochgewachsenen, in schimmerndes Metall gekleideten Reiters. Aber ehe Kim den Gedanken weiterspinnen konnte, war er eingeschlafen.

Auch dieses Mal war ihm kein guter Schlaf gegönnt. Kim hatte zwar keine Alpträume - wenigstens konnte er sich nicht daran erinnern -, wachte jedoch mehrmals auf, weil er glaubte, ein verdächtiges Geräusch gehört zu haben. Aber immer war es nur das Hämmern des eigenen Herzens, das ihn geweckt hatte. Am Morgen erwachte Kim mit dem ersten Schimmer der Dämmerung, und obwohl er noch müde war, beschloß er aufzustehen. Die vage Erinnerung, daß irgend jemand von Wachen gesprochen hatte, stieg in ihm auf. Er drehte den Kopf und sah den Riesen, der zusammen mit Ado an einem kleinen Feuer hockte und die Hände wärmend über die Flammen hielt.

Leise, um die anderen nicht zu wecken, stand Kim auf und schlich zum Feuer hinüber. Gorg sah müde und übernächtigt aus. Tiefe Linien, die vorher nicht dagewesen waren, hatten sich in sein Gesicht gegraben, und die Haut wirkte im flackernden Licht des Feuers grau und kränklich.

Der Riese schaute auf, als Kim sich am Feuer niederließ.

»Du bist schon wach?«

Kim schüttelte den Kopf. Er streckte die Hände über den Flammen aus und rieb die Finger gegeneinander. Erst jetzt, da er die Wärme des Feuers spürte, merkte er, wie kalt es geworden war. Das Gras hatte sich mit Rauhreif überzogen. »Noch nicht«, murmelte Kim. »Ich tu nur so.« Er rutschte ein Stück näher ans Feuer heran, bis die Flammen fast an seiner Rüstung leckten, aber er fror noch immer. »Was ist mit euch?« fragte er. »Seid ihr Frühaufsteher, oder habt ihr noch gar nicht geschlafen?«

»Halb und halb«, antwortete Ado. »Gorg und ich haben uns auf Wache abgewechselt.«

»Warum habt ihr mich nicht geweckt?« fragte Kim. »Ich hätte auch eine Wache übernehmen können.«

Gorg grinste breit, und Kim beschloß, lieber das Thema zu wechseln. »Wie geht es jetzt weiter?«

Gorg deutete mit einer Kopfbewegung zum Fluß hinunter. Dicht am Ufer schaukelte ein unförmiges Floß. Es war alles andere als ein Kunstwerk, aber stabil und groß genug, um sie alle aufzunehmen, wenn sie eng genug zusammenrückten. Gorg mußte die halbe Nacht gearbeitet haben.

Kim nickte anerkennend. »Wenn du jetzt auch noch ein gebratenes Huhn aus dem Ärmel zauberst«, sagte er, »beginnst du mir richtig sympathisch zu werden.«

Gorg schüttelte betrübt den Kopf. »Leider, Kim. Ich habe mich im weiten Umkreis umgesehen, aber dieses Land ist wie ausgestorben. Nichts. Nicht einmal ein Vogel.«

Ausgestorben... Kim schauderte, und nicht nur vor Kälte. Gorg hatte ausgesprochen, was er seit dem Verlassen der Höhle unbewußt empfunden hatte. Dieses Land wirkte trotz der Bäume und des in Büscheln auf dem harten Boden wachsenden Grases tot. Vielleicht nicht wirklich tot, sondern nur anders als alles, was er bisher kennengelernt hatte; so als wären sie hier in einen Bereich vorgedrungen, der nicht für die Art von Leben, wie sie es kannten, bestimmt war.