»Wann brechen wir auf?« fragte er, nicht wirklich interessiert, sondern um seine Gedanken auf ein anderes Thema zu bringen.
»Sobald es richtig hell ist. Kelhim kann auf dem Floß weiterschlafen, und du auch, wenn du willst. Wir dürfen nicht noch mehr Zeit verlieren.«
Einen Moment lang dachte Kim an die düstere Vision, die er am vergangenen Abend kurz vor dem Einschlafen gehabt hatte. An den schwarzen Reiter oder, besser gesagt, an den Schatten eines schwarzen Reiters, der sich in seine Träume geschlichen hatte. Er überlegte, ob er Gorg davon erzählen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Es war ein Traum gewesen, nicht mehr. Es hatte keinen Sinn, die anderen damit zu beunruhigen.
Kims Blick tastete über die noch in Dunkelheit gehüllten Umrisse der Hügel und blieb einen Moment an den Bäumen am gegenüberliegenden Flußufer hängen. Gestern abend war er viel zu müde gewesen, um sie genauer zu betrachten, aber jetzt sah er, daß es recht seltsame Bäume waren; Bäume von einer Art, wie er sie noch nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Die Stämme waren glatt und wirkten im Zwielicht der Dämmerung wie poliert, und die dünnen Äste und Zweige erinnerten an Draht, so eckig und starr waren ihre Konturen. Auch das Gras zu ihren Füßen war fremdartig. Sein Grün war mit einer Spur einer schwer zu benennenden Farbe gemischt, und die einzelnen Halme waren, obwohl dünn und biegsam, messerscharf wie winzige Dolche. Selbst die Steine am Flußufer wirkten kantig und spitz, als wäre hier alles auf Abwehr und Verteidigung eingestellt.
Verteidigung wogegen? fragte Kim sich unwillkürlich. Aber er spann den Gedanken nicht zu Ende, denn in diesem Moment erhob sich Gorg ächzend von seinem Platz und machte sich auf den Weg zur Hügelkuppe hinauf. Ado folgte ihm, und nach einer Weile stand auch Kim auf und lief, um die beiden einzuholen.
Ein fahler Streifen orangeroten Lichts zeigte sich am Horizont, als sie den Hügel erklommen hatten. Die Schatten unten im Tal begannen allmählich zu verblassen. Nur vor der kantigen Bergkette am Eingang des Tales blieb eine messerscharfe, wie mit einem großen Lineal gezogene Trennlinie zwischen Hell und Dunkel, als weigere sich die Nacht dort standhaft, sich zurückzuziehen. Seltsamerweise waren die Berge dort nicht einmal besonders hoch, und wenn Kim an die riesige Höhle zurückdachte, die sie durchwandert hatten, konnte das Ganze eigentlich nur eine gewaltige Blase unter einer hauchdünnen Gesteinsschicht sein. Und auch die Berge dahinter waren überraschend niedrig, zumindest im Vergleich mit den mächtigen Klüften und Felsabstürzen, die sie passiert hatten. Bedachte man die Höhenunterschiede, die der Verschwundene Fluß überwand, so mußte dieses Land hier merklich tiefer als Märchenmond liegen. Vielleicht war es selbst nichts anderes als ein einziges, ungeheuer großes Tal.
Kim wollte sich eben wieder umdrehen, um zum Lagerplatz zurückzukehren, als ihm eine Bewegung inmitten der schwarzen Schatten unten im Tal auffiel. Erschrocken griff er nach dem Arm des Riesen und deutete hinunter.
Gorg knurrte. Auf seinem Gesicht erschien ein gespannter Ausdruck. Auch er schien die Bewegung bemerkt zu haben.
Nein, dachte Kim, nicht das. Bitte nicht das!
Aber sein Flehen blieb unerhört. Nach einer Weile wiederholte sich die Bewegung, und sowie die Sonne höher stieg, ließen sich mehr und mehr Einzelheiten erkennen. Und je mehr sie erkennen konnten, desto tiefer wurde die Verzweiflung in Kims Herzen. Denn die Wahrheit ließ sich nun nicht länger verleugnen.
Zwischen den Felsen unten am Flußufer bewegten sich Reiter.
Schwarze Reiter.
Es waren nicht mehr so viele wie das letzte Mal, vielleicht zwanzig, dreißig Mann, aber selbst dieser Trupp reichte, um ihnen auf diesem ungeschützten Gelände den Garaus zu machen. Und an seiner Spitze, über die Entfernung doch deutlich zu erkennen, ritt eine riesenhafte, schwarzgepanzerte Gestalt.
»Baron Kart«, murmelte Kim.
Die Reiter waren sicher noch eine Stunde oder mehr entfernt, und auf dem felsigen Grund konnten sie ihr Tempo wohl kaum merklich steigern. Aber Kim war sich darüber im klaren, daß ihr Vorsprung rasch zusammenschrumpfen würde, sobald die Reiter das Tal durchquert und die Hügelkette überwunden hatten. Selbst mit dem Floß würden sie kaum die Geschwindigkeit galoppierender Pferde erreichen können.
»Umsonst«, murmelte er. »Es war alles umsonst. Rangarigs Tod, der Tümpelkönig...« Als allerletzte Rettung blieb zwar noch immer der wundertätige Umhang, Laurins Mantel. Doch irgend etwas sagte ihm, daß die Zeit dafür noch nicht gekommen war.
»Schweig!« befahl Gorg. Seine Stimme bebte, und sein Gesicht zeigte einen so wütenden Ausdruck, daß Kim unwillkürlich einen Schritt zurückwich. »Nichts war umsonst!« donnerte Gorg. »Wir haben noch Zeit. Lauf und wecke die anderen. Ihr müßt sofort losfahren.«
»Wir?« Kim verstand nicht gleich.
»Wieso wir? Du...«
»Ich bleibe«, sagte Gorg entschlossen. »Ich werde sie aufhalten, so gut es geht.«
»Du bist verrückt!« entfuhr es Kim. »Du weißt nicht, was du redest. Es wäre dein sicherer Tod, wenn du zurückbleibst.« Gorg lachte rauh. »Ach was, mein Kleiner. Es sind nicht viele, und...«
»Zu viele«, fiel ihm Kim ins Wort. »Auch für dich.«
»Willst du mich beleidigen?« grollte Gorg. »Es gehört mehr als eine Handvoll schwarzer Reiter dazu, mich in die Flucht zu schlagen.«
Kim schüttelte den Kopf. »Ich lasse nicht zu, daß du dich opferst«, sagte er bestimmt. »Wenn wir alle hierbleiben und ihnen einen Hinterhalt legen, haben wir eine gute Chance.«
Gorg antwortete nicht, sondern beendete die Diskussion auf seine Art. Wortlos packte er Kim, klemmte ihn wie einen Kartoffelsack unter den Arm und stürmte mit weit ausgreifenden Schritten den Hang hinunter, ohne sich um Kims Protestgeschrei zu kümmern.
Kims Gebrüll weckte die anderen.
»Was ist los?« fragte Priwinn verwirrt, während er sich den Schlaf aus den Augen wischte.
»Schwarze Reiter!« sagte Gorg. »Ungefähr zwanzig. Ihr müßt sofort losfahren. In einer Stunde sind sie hier!«
Priwinn starrte den Riesen einen Moment lang fassungslos an und sprang dann mit einem Satz auf die Füße. Er stellte sich auf die Seite von Kim. Auch er wollte nicht zulassen, daß Gorg allein zurückblieb.
»Schluß jetzt!« befahl Gorg. »Ich weiß schon, was ich tu.«
Aber Kim dachte gar nicht daran nachzugeben. »Das weißt du nicht!« sagte er. »Wir brauchen dich, Gorg. Keiner von uns weiß, welche Gefahren uns noch erwarten.«
»Wenn niemand zurückbleibt, um sie aufzuhalten, gar keine mehr«, gab Gorg trocken zurück. »Dann haben sie euch nämlich in längstens zwei Stunden eingeholt.«
»Laßt mich zurück«, sagte jetzt Kelhim, der dem Streit bisher schweigend gefolgt war. »Kim hat recht. Vielleicht wirst du noch gebraucht, später. Ich dagegen«, er deutete mit einer vielsagenden Geste auf seine nutzlose Tatze und die unförmig angeschwollene Schulter, »bin sowieso nur eine Belastung für euch. Es ist nicht schade um einen Krüppel wie mich.«
»Und was willst du mit deiner Verletzung gegen die Schwarzen unternehmen?« fragte Gorg.
Kelhim lachte rauh. »Mag sein, daß ich nicht mehr der alte bin«, sagte er. »Aber um Kart das Leben schwerzumachen, dazu reicht es noch allemal! Ich lasse nicht zu, daß du bleibst.«
»Mach dich nicht lächerlich«, sagte Gorg ruhig. »Ihr steigt jetzt auf das Floß und verschwindet. Wenn wir uns hier noch lange herumstreiten, erledigt sich die Sache von selbst. Dann haben sie uns nämlich alle.«
»Ich bleibe«, beharrte Kelhim.
Gorgs Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. »Ach?«
Kelhim richtete sich drohend auf die Hinterbeine auf. Zum ersten Mal seit langer Zeit kam Kim wieder zu Bewußtsein, wie groß und mächtig der Bär war, selbst im Vergleich zu Gorg. Der Riese überragte Kelhim zwar um mehr als zwei Kopflängen, aber der Bär war viel massiger und breiter. »Ich bleibe hier«, wiederholte Kelhim. »Und wenn du etwas dagegen einzuwenden hast, wirst du mit mir kämpfen müssen.«