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Einen Moment lang schien es, als würde Gorg die Herausforderung annehmen. Aber dann entspannte sich sein Körper, und auf seinem Gesicht machte sich ein resignierter Ausdruck breit. »Wenn du meinst«, sagte er leise. »Du hast es so gewollt.«

Er trat beiseite, wartete, bis der Bär, noch immer hoch aufgerichtet und beide Tatzen drohend vorgestreckt, an ihm vorbei war, und schlug ihm dann mit aller Macht die Keule auf den Hinterkopf. Kelhim fiel stocksteif vornüber und blieb wie ein gefällter Baum liegen.

Priwinn schrie entsetzt auf. »Was hast du getan?«

»Das einzig Richtige«, antwortete Gorg, ohne den Steppenprinzen eines Blickes zu würdigen. »Dieser Narr hätte sich umgebracht, ohne zu überlegen.« Er warf seine Keule ins Gras, hob ächzend den schweren Körper des Bären hoch und trug ihn zum Floß hinüber. »Jetzt ihr«, sagte er ungeduldig, nachdem er Kelhim auf den feuchten Stämmen abgeladen hatte. »Beeilt euch.«

Kim, Brobing, Ado und Priwinn traten hintereinander auf das Floß. Gorg griff nach dem Haltetau und riß es kurzerhand entzwei. Das Floß schwankte, stemmte sich gegen die Strömung und trieb langsam vom Ufer weg auf die Flußmitte zu.

Kelhim erwachte erst gegen Mittag. Er fieberte und redete wirr. Die Wunde an seiner Schulter hatte sich weiter entzündet und begann einen üblen Geruch auszuströmen. Ado bemühte sich eine Weile darum, gab dann kopfschüttelnd auf und sah den Bären unglücklich an. »Tut mir leid, alter Bursche«, murmelte er. »Ich kann dir nicht mehr helfen.«

Er blickte sekundenlang in Kims Augen und starrte dann in das vorüberrauschende Wasser.

»Er wird sterben, wenn ihm keine Hilfe zuteil wird«, sagte er. Er sagte es ruhig, und in seiner Stimme war keine Trauer und keine Bitterkeit. Trotzdem hatte Kim das Gefühl, als ob jedes Wort wie ein glühendes Messer in seine Brust stäche. Sterben...

War ihre Reise denn nur eine Reise in den Tod? Wartete auf jeden einzelnen von ihnen schließlich nichts als ein sinnloses Ende? Vor seinem geistigen Auge zogen noch einmal die Stationen ihrer Reise vorbei: zuerst Rangarig, der große, gutmütige, unbesiegbare Drache, hingemetzelt in einem grausamen Kampf, gestorben für ein Ziel, das sie vermutlich nie erreichen würden, ja das es vielleicht nicht einmal gab. Dann der Tümpelkönig, dieser traurige alte Mann, der sich noch einmal gegen sein Schicksal aufgelehnt hatte, der sich nach Jahrzehnten der Unterdrückung endlich gegen seine Folterknechte stellte und dafür mit dem Leben bezahlte. Dann Gorg, der mächtige, liebenswerte Riese, der im Grunde nichts als ein zu groß geratener Junge war und den Kim, ohne sich bis zu diesem Augenblick dessen bewußt gewesen zu sein, von allen am liebsten mochte. Auch Gorg war tot, Kim wußte es; gestorben, nur um ihnen ein paar Stunden Vorsprung zu verschaffen. Und jetzt Kelhim. Lieber Himmel, waren sie denn alle nur mit ihm gekommen, um an seiner Seite zu sterben, vielleicht sogar an seiner Stelle?

Kims Trauer machte für einen Moment jäh aufflammender Wut Platz. Fast wünschte er sich, daß Baron Kart sie weiter verfolgen würde, daß er ihm noch einmal gegenüberstehen könnte, ein einziges Mal noch, um ihm alles heimzuzahlen, was er ihm angetan hatte.

Er strich dem Bären zärtlich über den Kopf und schmiegte sich frierend in sein Fell. Die Sonne hatte den Höhepunkt ihrer Bahn erreicht; trotzdem wurde es immer kälter. Zwischen den Bäumen am Flußufer lagen da und dort kleine Schneenester, und der Himmel hatte sich im Westen mit tiefhängenden grauen Wolken bedeckt. Der eisige Wind blies noch stärker, und zwischen den Baumstämmen, aus denen das Floß zusammengefügt war, bildete sich Rauhreif. Wahrscheinlich würde es heute noch schneien.

Kim rollte sich zu einem Ball zusammen, vergrub das Gesicht im weichen Fell des Bären und versuchte zu schlafen. Das Floß trieb gemächlich in der Flußmitte dahin, weit genug vom Ufer entfernt, um vor Pfeilen und Speeren in Sicherheit zu sein. Von ihren Verfolgern war noch keine Spur zu entdecken. Entweder war es Gorg gelungen, die schwarzen Reiter in die Flucht zu schlagen, oder sie hatten ihre Spur verloren. Doch diese Hoffnung war so gering, daß Kim sich zwar an sie klammern, im Grunde seines Herzens aber nicht daran glauben konnte. Die schwarzen Reiter würden entdecken, daß sie Bäume geschlagen hatten, und es war nicht schwer, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Es wurde immer noch kälter. Nach und nach verschwanden die Bäume vom Ufer. Schnee und große Flecken nackten schwarzen Gesteins säumten den Fluß auf beiden Seiten. Am späten Nachmittag tauchten die ersten Eisschollen auf dem Wasser auf, noch zerbrechlich und dünn wie Glas, aber drohende Vorboten dessen, was sie noch erwarten mochte. Frierend und halb betäubt vor Kälte rollten sie sich alle im Schutze Kelhims zum Schlafen zusammen. Die Sonne versank, und das Floß trieb weiter auf dem breiten, ruhig strömenden Fluß entlang. Kim schlief bald ein, wachte aber immer wieder auf, wenn Eisschollen und große, harte Brocken gegen das Floß stießen, und einmal schrammte etwas so machtvoll an der Unterseite der Stämme entlang, daß sie befürchteten, das Floß würde zerbrechen. Aber es hielt stand, und sie glitten weiter in Nacht und Ungewißheit hinein.

Kim erwachte, als das Floß mit lautem Knirschen auf Grund lief. Er fuhr hoch, griff haltsuchend um sich und bekam etwas Kaltes, Hartes zu fassen.

Rings um sie herum war Eis. Eis, das sich zu einer hohen, glitzernden Mauer quer über den Fluß auftürmte, in spitzen Riffen durch die Wasseroberfläche brach und das Ufer in eine bizarre Landschaft verwandelte.

»Endstation«, sagte Priwinn lakonisch. »Sieht so aus, als müßten wir von hier aus laufen.«

Kim konnte Priwinns scheinbaren Gleichmut nicht teilen. Er stand auf, murmelte etwas Unverständliches und erschrak, als seine steifgefrorenen Muskeln gegen die Bewegung protestierten. Seine Finger waren taub vor Kälte, und seine ganze Haut prickelte und brannte. Den anderen schien es nicht besser zu ergehen. Priwinn und Ado wirkten blaß und elend. Brobing stand zitternd und mit übereinandergeschlagenen Armen am Rande der Eisbarriere und versuchte, einen Blick darüber zu werfen.

»Kannst du etwas erkennen?« fragte Ado.

Brobing nickte. »Ja«, sagte er. »Eis. So weit das Auge reicht. Der Fluß tritt hier und da noch einmal zutage, aber er ist zum größten Teil mit Eis bedeckt. Mit dem Floß kommen wir jedenfalls nicht mehr weiter.« Er trat seufzend zurück und blickte zum Ufer hinüber. Der Fluß war hier so seicht, daß sie den Grund sehen konnten, aber das Floß hatte sich derart im Eis verkeilt, daß sie gar nicht erst zu versuchen brauchten, es zu befreien. Selbst wenn es ihnen gelänge, würde die Strömung sie sofort wieder in oder gar unter das Eis drücken.

Kim atmete tief ein und ließ sich über den Rand des Floßes gleiten. Er sank bis zu den Oberschenkeln ins eisige Wasser ein. Die Kälte traf ihn so schmerzhaft, daß er aufschrie. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Unter Aufbietung aller Willenskraft taumelte er weiter, hielt sich mit der Rechten an der Eisbarriere fest und wankte dem Ufer entgegen, jeder Schritt eine Qual. Schon nach wenigen Sekunden verlor er jedes Gefühl in den Beinen, und mehr als einmal war er nahe daran, einfach aufzugeben und sich vornüber ins Wasser fallen zu lassen. Aber er schaffte es, irgendwie, und nach einer Weile erreichten auch die anderen das Ufer und ließen sich erschöpft und halb bewußtlos vor Kälte auf das Eis niedersinken.

»Weiter«, drängte Kelhim, der das Floß als letzter verlassen hatte. »Ihr müßt unbedingt weiter. Wenn ihr einschlaft, erfriert ihr.«

Kim wälzte sich stöhnend auf die Seite. Er wollte schlafen, wollte sich der verlockenden, tauben Wärme hingeben, die sich in seinen Gliedern auszubreiten begann. Instinktiv wußte er, daß Kelhim recht hatte und daß die Wärme in seinem Inneren nichts anderes als der erste Vorbote des Todes war, aber das war ihm egal. Er wollte schlafen, nichts als ausruhen.