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»Ich habe dich gewarnt, Kart«, sagte der Eisriese. »Halte deine Männer zurück, oder ihnen und dir widerfährt das gleiche Schicksal.« Er drehte den Kopf, musterte Kelhim und die anderen abschätzig und wandte sich dann an Kim. »Nun zu dir, Kim Larssen. Wir haben dich erwartet. Dich und deine Freunde. Ihr kommt spät.«

Kim erschrak. »Du... du kennst meinen Namen?«

Ein Lächeln glitt über das Gesicht des weißen Riesen. »Natürlich«, antwortete er. »Den deinen und auch die deiner Freunde. Ich weiß, warum ihr hier seid, und ich weiß auch, wie ihr gekommen seid. Nichts, was irgendwo in unserem Reich geschieht, bleibt uns verborgen.«

»Aber warum...« stotterte Kim, »was... wer... wer bist du?«

»Man hat uns viele Namen gegeben, und einer ist so gut wie der andere. Ich glaube, die Menschen von Märchenmond nennen uns die Weltenwächter.«

»Weltenwächter?« wiederholte Kim fragend. »Was bedeutet das?«

»Du wirst es erfahren. Doch nun kommt!« Er wendete sein Pferd, bewegte die Hand und ritt langsam voran. Die Nebelwand riß auf, und wo kurz zuvor nur leere, eisige Einöde gewesen war, erhob sich vor ihren staunenden Augen nun eine prächtige Burg, die ganz aus Eis und Schnee erbaut war. Schimmernde Eisbrücken verbanden die himmelstürmenden Türme der Festung miteinander, und über dem weitgeöffneten Tor prangte das aus Eis geformte Symbol der Unendlichkeit, eine liegende Acht.

Kelhim stieß einen Laut der Überraschung aus.

»Burg Weltende!« brummte er.

Der weiße Reiter verhielt sein Pferd und wartete, bis Kelhim und Kim neben ihm angelangt waren.

»Geht voraus«, sagte er. »Man erwartet euch.«

Kim zögerte. Kart und die vier verbliebenen Reiter hatten sich nicht von der Stelle gerührt. Aber Kim konnte beinah Karts haßerfüllten Blick im Rücken spüren.

»Geht ruhig«, sagte der Weltenwächter. »Ihr seid hier sicher. Burg Weltende ist ein Ort des Friedens. Boraas' Macht endet hier.«

Sie gehorchten und näherten sich dem Tor, während der Reiter hinter ihnen zurückblieb und langsam mit dem Nebel zu verschmelzen schien. Kim kam sich unglaublich winzig und verloren vor, als sie durch das mächtige Tor von Weltende traten, ein geschlagener, verlorener Haufen, von dessen einstigem Mut und Optimismus kaum noch etwas geblieben war. Diese plötzliche, neuerliche Rettung erschien ihm wie ein Wunder. Gleichzeitig fiel ihm wieder ein, was der Weltenwächter gesagt hatte. Nichts, was in unserem Reich geschieht, bleibt uns verborgen...

Bedeutete das, daß sie die ganze Zeit unter dem Schutz des weißen Riesen gestanden hatten? Kim dachte diesen Gedanken lieber nicht zu Ende. Denn wenn es so war, dann war zumindest Gorgs Opfer sinnlos gewesen.

Ein weiter, vereister Innenhof nahm sie auf. Kim hörte ein leises Geräusch. Als er sich umdrehte, sah er, wie sich die riesigen Torflügel schlossen. In der Mitte des Hofes blieben sie unschlüssig stehen. Die Türme und Mauern ragten ringsum glatt und fugenlos in die Höhe, ebenmäßige, schimmernde Wände ohne Fenster und Türen. Die Burg erinnerte Kim ein wenig an Gorywynn, nur daß, was dort aus Glas war, hier aus Eis und Schnee erbaut war und statt der funkelnden Farbenpracht hier kaltes steriles Weiß herrschte. Wo in Gorywynn Licht und Anmut die Linien der Architektur prägten, herrschte hier Ruhe und majestätische Größe vor. Und es war still. Unheimlich still.

Eine der fugenlosen Wände öffnete sich wie von Geisterhand, und ein Mann trat auf den Hof. Seinem Aussehen nach hätte er ein Bruder dessen sein können, der sie draußen empfangen und gerettet hatte; nur fehlte ihm etwas von der Macht und Ruhe, die jener ausstrahlte.

»Willkommen in Weltende, der Burg am Rande der Zeit«, sagte der Fremde. Kim fand die Worte ein wenig theatralisch, aber er nahm sich zusammen und nickte ernsthaft. Der Eisriese schwieg, als erwarte er eine Antwort, zuckte dann die Achseln und machte eine einladende Geste. »Folgt mir. Ich werde euch in eure Gemächer geleiten, wo ihr zu essen bekommt und eure Wunden gepflegt werden.«

So verlockend das Angebot auch klang, alle fünf blieben stocksteif stehen und machten keine Anstalten, der Einladung zu folgen.

»Ihr habt nichts zu befürchten«, sagte der Eisriese lächelnd. »Ihr befindet euch am sichersten Ort dieser Welt.«

»Darum geht es nicht«, gab Priwinn zurück. »Aber wir dürfen keine Zeit verlieren. Unser...«

»Euer Weg endet hier«, unterbrach ihn der Eisriese, noch immer freundlich, aber in sehr bestimmtem Ton.

»Was heißt das?« fragte Kim erschrocken.

»Euer Weg ist zu Ende, so, wie alle Wege hier enden. Kein Pfad, kein Weg, keine Straße führt über Burg Weltende hinaus.«

»Aber... aber irgend etwas muß doch auf der anderen Seite liegen«, stammelte Kim.

Der Eisriese schüttelte ernst den Kopf. »Nur das Nichts. Eure Welt endet hier.«

»Unsere Welt?« fragte Priwinn hellhörig. »Was heißt das - unsere Welt?«

»Es gibt mehr als nur eine Welt, Prinz der Steppe«, entgegnete der Eisriese geduldig. »Es gibt unzählige Welten, so, wie es unzählige Menschen mit unzähligen Gedanken gibt. Jeder von euch trägt mehr Welten in sich, als Planeten im Kosmos sind. Sie alle haben eines gemeinsam. Sie enden hier.«

»Dann gibt es doch einen Weg?« bohrte Priwinn. »Nur nicht für uns?«

»Es gibt einen«, antwortete der Eisriese zögernd, »doch ist er gefährlich und schmal und nicht für Wesen wie euch bestimmt. - Kommt jetzt. Wir werden später noch genug Zeit haben, uns darüber zu unterhalten.«

Er trat beiseite, und ein zweiter, dritter, vierter und fünfter Eisriese erschienen auf dem Hof, bis jeder von Kims Gefährten einen Führer hatte, dem er, wenn auch widerstrebend, ins Innere der Burg folgte. Die Gänge waren schmal und hoch, so hoch, daß man die Decke nicht sehen konnte und den Eindruck gewann, sich im Inneren der gewaltigen Burgmauern zu bewegen.

Kims Führer deutete auf einen Türbogen, der plötzlich aufklaffte, wo soeben noch fugenloses Eis gewesen war.

»Tritt ein, Kim.«

Kim sah sich unsicher nach den anderen um. Es paßte ihm nicht, von ihnen getrennt zu werden, aber er sah ein, daß jeder Widerstand zwecklos war. Die sanfte und freundliche Art der Eisriesen täuschte nicht darüber hinweg, daß ihre Gebote keinen Widerspruch duldeten.

Kim seufzte resignierend und folgte seinem Begleiter in den angrenzenden Raum. Hinter seinem Rücken verschmolz die Tür wieder spurlos mit der Wand.

Kim sah sich staunend um. Es gab keine Fenster und Türen, dennoch war das Zimmer taghell erleuchtet. Ein breites, bequemes Bett nahm eine ganze Seite des Raumes ein, davor stand ein Tisch mit einem hochlehnigen Stuhl. Auf dem Tisch türmten sich Teller und Schalen mit Früchten und Fleisch und Brot, daneben bauchige Krüge mit dampfenden Getränken. Alles in diesem Raum, selbst die Möbel und die Schalen, in denen die Speisen angerichtet waren, bestand aus Eis. Trotzdem war es warm, mollig warm sogar.

»Ich lasse dich jetzt allein«, verkündete Kims Begleiter. »Iß, trink und ruh dich aus. Später komme ich wieder, um deine Wunden zu versorgen.«

Kim wollte widersprechen, aber der Eisriese wandte sich rasch um und trat durch die geschlossene Wand hinaus. Kim starrte die Stelle, wo er verschwunden war, noch eine Weile verblüfft an, dann drehte er sich achselzuckend um und ging zögernd zum Tisch. Er schwankte zwischen dem immer mächtiger werdenden Wunsch, sich hinzulegen und endlich wieder einmal in einem weichen, warmen Bett zu schlafen, und seinem Hunger. Schließlich siegte letzterer. Vorsichtig ließ Kim sich auf dem zerbrechlich aussehenden Stuhl nieder und griff nach einem Teller mit duftenden Bratenscheiben. Das Fleisch war noch heiß, so daß er sich fast die Finger verbrannte. Trotzdem schmolz der Eisteller nicht. Aber Kim hatte längst aufgehört, sich über all das Unmögliche und Erstaunliche, das er hier erlebte, den Kopf zu zerbrechen. Er nahm es eben hin, wie es war.