Als er satt war, stand er auf, streckte seine müden Glieder und wankte zum Bett hinüber. Auch das Bettgestell bestand, wie nicht anders zu erwarten, aus Eis, und die Bettwäsche schien aus Schnee gewoben zu sein, so weich und anschmiegsam war sie. Er legte sich hin, deckte sich zu und war binnen Sekunden eingeschlafen.
Diesmal wurde er nicht von Alpträumen geplagt. Als Kim erwachte, fühlte er sich frisch und kräftig wie seit langem nicht mehr. Jemand war im Zimmer gewesen, während er schlief. Der Tisch war abgeräumt und das überreichliche Festmahl durch ein einfaches, aber gutes und reichliches Frühstück ersetzt worden, und neben seinem Bett stand eine Waschschüssel mit warmem Wasser.
Kim aß, wusch sich (in ebendieser Reihenfolge, weil es ihm plötzlich kindisches Vergnügen bereitete, mit solchen erzieherischen Grundsätzen zu brechen) und wartete dann ab, was weiter geschah.
Seine Geduld wurde auf keine lange Probe gestellt. Die Wand teilte sich lautlos, und sein Betreuer kam herein.
»Nun«, sagte der Eisriese freundlich, »ich hoffe, du warst mit der Unterbringung zufrieden?«
Kim nickte. »Sehr. Ich fühle mich wohl wie schon lange nicht mehr. Vielen Dank für alles.«
Der Eisriese nickte. »Du mußt sehr müde gewesen sein.«
»Ja. Aber jetzt fühle ich mich wieder großartig. Habe ich lange geschlafen?«
»Zwei Nächte und einen Tag«, antwortete der Eisriese.
»Zwei Nächte?« fragte Kim erschrocken.
»Du warst erschöpft, Kim. Wir haben dafür gesorgt, daß dein Körper die Ruhe nachholen konnte, die er so lange entbehren mußte.«
»Zwei Nächte!« wiederholte Kim. »Ich habe zwei Nächte und einen Tag verloren?«
»Nicht verloren, Kim. Sei unbesorgt. Nicht nur eure Welt, auch eure Zeit endet hier. Nicht eine Stunde wird vergangen sein, wenn du Weltende verläßt. Aber nun komm. Wir haben mit dir zu reden.«
Er trat auf den Gang hinaus und winkte Kim, ihm zu folgen.
»Was ist mit den anderen?« fragte Kim aufgeregt. »Mit Priwinn und Ado und Brobing? Und wie geht es Kelhim?«
»Sie ruhen noch«, antwortete der Eisriese, während sie ohne Hast den Gang hinunterschritten. »Die Wunde des Bären sah schlimm aus. Es wird eine Zeit dauern, ehe er wieder bei Kräften ist. Aber er wird es überleben, keine Sorge. Ihr habt viel riskiert«, fügte er nach einer Pause hinzu.
Sie schritten eine breite, lange Treppe hinunter, gingen durch einen weiteren hohen und schmalen Gang und standen schließlich vor einer geschlossenen Tür. In das schimmernde Eis ihrer Oberfläche war das Symbol der Unendlichkeit eingraviert, die liegende Acht, die Kim schon über dem Eingangstor aufgefallen war.
»Tritt ein!«
Kim gehorchte. Die Tür schwang lautlos auf, und Kim fand sich in einer hohen, kuppelartig gewölbten Halle wieder. Entlang den Wänden standen runde, blitzende Säulen aus blauweißem Eis. Eine seltsame, fast beklemmende Atmosphäre lag über dem Saal, und als Kim zögernd über den schimmernden Boden auf den Tisch in der Mitte zuging, glaubte er einen flüchtigen Hauch dessen zu verspüren, was das Symbol bedeutete. Einen Hauch der Unendlichkeit. Er schauderte.
»Tritt näher, Kim«, sagte der mittlere der drei Weltenwächter, die an dem halbrunden Tisch saßen und Kim aufmerksam entgegenblickten. »Du hast geruht, du hast gegessen, nun ist es an der Zeit zu reden.«
Kim schluckte. Ohne es begründen zu können, glaubte er einen unheilverkündenden Unterton aus der Stimme des Sprechers herauszuhören.
»Deine Freunde und du«, fuhr der Weltenwächter fort, »ihr habt ein großes Wagnis auf euch genommen, um hierherzugelangen. Schon viele vor euch haben versucht, das Ende der Welt zu finden, aber nur wenigen ist es gelungen.«
»Aber ich wollte nicht zum Ende der Welt«, sagte Kim unsicher. »Ich wollte zum...«
Der Weltenwächter unterbrach ihn mit einer raschen Handbewegung. »Wir wissen, welches dein Ziel war, Kim. Doch wisse du, daß deine Reise hier endet. Niemandem ist es bisher gelungen, den Weg zum König der Regenbogen zu gehen. Nicht hin und zurück.«
»Aber es gibt ihn?« fragte Kim.
Der Weltenwächter lächelte. »Ja, es gibt ihn«, sagte er. »Doch ist es keinem Menschen vergönnt, ihn zu sehen.«
»Aber ich muß zu ihm!« brauste Kim auf. »Nur er kann Märchenmond noch vor dem Untergang retten!«
»Er könnte es wohl, Kim. Aber auch wenn wir dir gestatten, deinen Weg weiterzuverfolgen, würdest du nie ans Ziel gelangen. Die Brücke über das Nichts wurde von Wesen geschaffen, die euch Menschen so überlegen sind wie ihr einer Ameise. Nicht einmal wir vermögen ihre Macht zu erahnen. Kein Mensch kann die Gefahren überwinden, die am Wegesrand lauern.«
»Das laßt nur meine Sorge sein«, entgegnete Kim. »Laßt es mich wenigstens versuchen. Rangarig und Gorg und all die anderen dürfen nicht umsonst gestorben sein. Wenn... wenn ich es nicht schaffe«, fügte er verzweifelt hinzu, »wird Märchenmond untergehen.«
»Hast du dich bis jetzt noch nicht gefragt, wozu wir eigentlich da sind?« fragte der Weltenwächter anstelle einer direkten Antwort. »Wir sind nicht nur da, um euch Menschen vor dem Sturz über den Weltenrand zu bewahren. Wir sind hier, um die Unendlichkeit zu schützen.«
»Vor uns?«
»Vor euch und jedem, der sie betreten will. Vor allem aber ist es unsere Aufgabe, leichtsinnige Narren wie dich vor Schaden zu bewahren. Es wäre dein Verderben, würden wir dich gehen lassen.«
»Aber ihr könnt doch nicht...« stotterte Kim. »Ich meine, ihr müßt doch... Märchenmond wird untergehen, wenn...«
»Wenn du ihm nicht hilfst, kleiner Held?« fragte der Weltenwächter mit gutmütigem Spott. »Glaubst du, mehr ausrichten zu können als Themistokles, mehr als all die mächtigen Zauberer Märchenmonds, mehr als die gewaltigen Heere, die Boraas gegen euch ins Feld wirft? Glaubst du das wirklich?«
Kim überlegte sich seine Antwort gründlich. Unbewußt spürte er, daß viel davon abhing und daß es mit einem halbherzigen Ja und Nein nicht getan war. Er fühlte, daß der Weltenwächter direkt in sein Herz hineinsah.
»Ja«, antwortete er. Und es war seine feste Überzeugung. Er wußte einfach, daß das Schicksal dieses riesigen, schönen Märchenlandes jetzt und für immer in seinen Händen lag, den Händen eines verwundbaren kleinen Jungen.
Der Weltenwächter nickte.
»Wenn es dein freier Wille ist, so kannst du gehen«, sagte er. »Aber wisse, wenn du Burg Weltende verläßt, verläßt du auch unseren Schutz. Vor dir haben schon andere den Sprung ins Nichts gewagt. Männer, Kim, große und mutige Helden. Doch keiner von ihnen ist zurückgekehrt.«
»Ich weiß«, murmelte Kim. »Aber ich muß es tun.« Plötzlich kam ihm ein Gedanke. »Warum helft ihr uns nicht?« fragte er.
»Warum sollten wir?«
»Vielleicht wird sich Boraas nicht damit zufriedengeben, Märchenmond zu erobern«, sagte Kim, nun kühner geworden. »Vielleicht reicht seine Macht doch weiter, als ihr denkt. Er hat schon einmal das Unmögliche möglich gemacht und mit der Hilfe seines schrecklichen Begleiters, des Schwarzen Lords, das Reich der Schatten verlassen und das Schattengebirge bezwungen. Warum sollte er nicht auch...«
»Wir werden uns zu schützen wissen, wenn es soweit ist«, fiel ihm der Weltenwächter ins Wort. »Es steht nicht in unserer Macht, fremde Geschicke zu lenken. Wir mischen uns nicht in eure Angelegenheiten ein. Selbst wenn wir es wollten, könnten wir es nicht. Auch wir sind nur winzige Teilchen im Gefüge von Raum und Zeit. Und über uns stehen Mächtigere. - Und nun«, sagte der Weltenwächter in verändertem Tonfall, »prüfe dein Gewissen ein letztes Mal. Wenn es dein fester Wille ist zu gehen, werden sich Weltendes Tore für dich öffnen. Für dich, Kim, für dich allein. Deine Begleiter müssen zurückbleiben. Denn die Brücke in die Unendlichkeit trägt immer nur einen Reisenden.«