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Kim wollte antworten, aber der Weltenwächter hob die Hand. »Eines noch, kleiner Held. Du kamst hierher als Gejagter. Unsere Unparteilichkeit verbietet aber jegliche Einmischung. Deswegen wird auch dein Verfolger den Weg ins Nichts finden.«

Kim überlegte angestrengt. Was der Weltenwächter so kompliziert ausdrückte, bedeutete wohl nichts anderes, als daß Baron Kart ihm folgen würde.

»Er allein«, sagte der Weltenwächter, der tatsächlich seine Gedanken zu lesen schien, wie zur Bestätigung. »Seine Begleiter werden zurückbleiben, ebenso wie die deinen. Nun? Bist du noch immer bereit zu gehen?«

Kim nickte wortlos.

Eine Weile geschah gar nichts. Dann auf einmal begannen die Umrisse der Halle vor seinen Augen zu verschwimmen. Als Kim wieder klar sehen konnte, stand er auf einer weiten, hellgrauen Ebene. Ein vertrautes Gewicht zerrte an seinem linken Arm, und als er an sich herabsah, stellte er fest, daß er wieder seine schwarze Rüstung und den Schild trug.

Er schaute auf und erblickte eine glatte, unendlich hohe Mauer, die sich zu beiden Seiten in konturlosem Grau verlor. Von der Burg und der Schneelandschaft war nichts mehr zu sehen. Kim schauderte und drehte sich einmal um seine Achse. Die graue Ebene setzte sich nach beiden Seiten hin bis ins Unendliche fort, einem schmalen Sims gleich, der am Fuße der gewaltigen Weltenmauer ins Nichts hineinragte.

Lange Zeit stand Kim reglos da und starrte in die schwarze Unendlichkeit hinaus, die sich jenseits der Ebene ausbreitete. Das war nicht die samtige, sternenerfüllte Schwärze des Weltraums, die er erwartet hatte, nicht die Leere zwischen den Planeten. Es war, was der Weltenwächter gemeint hatte. Das Nichts.

Das absolute Nichts.

Kim stöhnte. Seine Glieder begannen zu zittern, und ein unbeschreibliches, tödliches Gefühl der Verlorenheit begann sich in seine Seele zu krallen. Dennoch war Kim unfähig, den Blick zu wenden.

Der menschliche Geist ist nicht dafür geschaffen, dem Nichts gegenüberzustehen. Wir mögen uns Leere vorstellen, vielleicht auch einen Zipfel der Unendlichkeit erfassen können. Aber das Nichts, etwas, worin nicht einmal Leere, nicht einmal Raum und Einsamkeit existieren, hat keinen Platz in unserer Vorstellungswelt. Die Idee des Nichts ist so abstrakt, daß sein Anblick, die wirkliche Anwesenheit des Nichts - an sich schon ein Widerspruch in sich selbst - zum Wahnsinn führen kann. Kim begriff plötzlich, von welchen Gefahren der Weltenwächter gesprochen hatte. Es gab keine Fallen, keine Ungeheuer, keine Feinde, die am Wegesrand lauerten. Das Nichts an sich war die Falle, ein tödliches Spinnennetz, in dem sich sein Geist verfing. Ein Labyrinth nie endender Stollen und in sich selbst gekrümmter Wege, in denen sich seine Gedanken rettungslos verirren würden.

Unter Aufbietung aller Willenskraft gelang es Kim, den Blick abzuwenden. Er schüttelte sich. Kalter, feinperliger Schweiß bedeckte seinen Körper.

Ein leises Geräusch ließ ihn aufblicken. Vor ihm, noch winzig klein und über die Entfernung mehr zu erahnen als wirklich zu erkennen, öffnete sich eine Pforte in der glatten Fläche der Weltenmauer, und eine riesenhafte, in schwarzen Stahl gepanzerte Gestalt trat heraus.

Einen Moment lang dachte Kim an Flucht. Aber nicht länger. Es gab nichts, wohin er hätte fliehen können. Er konnte laufen, rennen, doch wie weit er auch liefe, überall würde er nur diese glatte, graue Ebene am Rande des Nichts vorfinden. Die Zeit der Flucht und des Versteckens war endgültig vorbei.

Er zog sein Schwert aus der Scheide, packte seinen Schild fester und ging Baron Kart entgegen.

Ruhig, Schild und Schwert fest im Griff und das schwarze Visier vor dem Gesicht heruntergelassen, erwartete Kim den Angriff des Gegners. Kart war in wenigen Schritten Entfernung stehengeblieben. Der Morgenstern pendelte lose an seiner Seite, und die dunklen Augen hinter den schmalen Schlitzen seines Gesichtsschutzes schienen Kim abschätzig zu mustern.

»Es hat lange gedauert«, sagte er schließlich. Zum ersten Mal, seit Kim den schwarzen Baron kannte, klang seine Stimme nicht spöttisch oder herablassend, sondern drückte Respekt und Anerkennung aus. »Sehr lange. Noch nie hat es jemand geschafft, mich so lange an der Nase herumzuführen.«

»Und mir ist noch nie jemand so hartnäckig auf den Fersen geblieben«, gab Kim trotzig zurück. »Was willst du? Kämpfen oder reden?«

In Karts Augen blitzte es belustigt auf. »Gemach, kleiner Held, gemach. Wir haben Zeit. Viel Zeit. Nur einer von uns beiden wird diesen Kampf überleben, vergiß das nicht. Der Tod wird seinen Anteil früh genug bekommen.«

Kim musterte den Baron mißtrauisch. Waren Karts Worte nur ein weiterer Trick, ihn in Sicherheit zu wiegen, um dann, in einem Moment der Unachtsamkeit, überraschend zuzuschlagen?

Kart schüttelte den Kopf. »Du beschämst mich, Kim. Ich kämpfe hart, und wenn du auf Gnade hoffst, so wirst du enttäuscht werden. Aber ich bemühe mich stets, fair zu sein.«

Kim zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. »Du... du liest meine Gedanken?« fragte er.

Kart nickte. »Vom ersten Moment an, Kim.«

»Aber... aber wie...?«

Kart lachte. Die Metallmaske vor seinem Gesicht verzerrte sein Lachen in ein hohles, blechernes Geräusch. »Du fragst dich, wie du entkommen konntest. Eine kluge Frage. Und jetzt, wo die Entscheidung bevorsteht, so oder so, kann ich sie dir beantworten. Das heißt, wenn du die Wahrheit hören willst.«

»Bitte«, sagte Kim mit mühsam beherrschter Stimme.

»Sie wird dir nicht gefallen, kleiner Held.«

»Rede!«

Kart zuckte die Achseln. »Es war geplant, Kim«, sagte er ruhig. »Von Anfang an. Nicht einer deiner Schritte war anders als geplant.«

»Aber...«

»Du allein hast es uns ermöglicht, Märchenmond anzugreifen«, fuhr Kart erbarmungslos fort. »Deine Flucht aus Morgon war nötig, ebenso wie deine Anwesenheit bei unserem Heer.«

»Dann... dann habt ihr gewußt, daß ich unter euch war?« Wieder lachte Kart. »Gewußt?« fragte er spöttisch. »So und nicht anders haben wir es geplant. Wir brauchten dich. Nur in deiner Begleitung war es unserem Heer möglich, das Schattengebirge zu überwinden. Dir allein war es gegeben, die Schranke nach Märchenmond zu öffnen.«

Kim stöhnte. Kalte Wut, gepaart mit hilfloser Verzweiflung, packte ihn. Wenn das stimmte, dann trug er, Kim Larssen, die Verantwortung für alles, was an Grausamem und Schrecklichem bereits geschehen war und vielleicht noch geschehen würde. Der Tod seiner Freunde, die Zerstörung Caivallons, jeder Tropfen vergossenen Blutes - alles seine Schuld. Das Böse hatte sich seiner als williges Werkzeug bedient und hielt ihm nun mit hämischer Genugtuung den Spiegel vors Gesicht. Du, du allein, Kim, bist schuld an den Leiden Märchenmonds.

Kim glaubte, in einen bodenlosen Abgrund zu versinken, als ihn die Erkenntnis traf. Wie sollte er, ein schwacher kleiner Junge, den Blick in diesen Spiegel ertragen können? Aber Kart redete ungerührt weiter.

»Wir waren es, die dich riefen, Kim. Wir! Nicht Themistokles. Wir fingen deine Schwester einzig zu dem Zweck, dich zu uns zu locken. Denn wir wußten, daß Themistokles sich in seiner Verzweiflung an dich wenden würde. Und wir wußten auch, daß du kommen würdest. Schon lange hatten wir den Untergang Märchenmonds beschlossen, aber das Schattengebirge verwehrte uns den Zugang. Nur ein Mensch aus eurer Welt konnte es überwinden, und als deine Schwester an jenem Tag einen verborgenen Paß fand und sich ins Reich der Schatten verirrte, erkannten wir unsere Chance. Du, nur du konntest unsere Truppen nach Märchenmond geleiten. Und nur du konntest unsere mächtigste Waffe zum Leben erwecken. Den Schwarzen Lord!«

»Hör auf!« rief Kim. »Hör endlich auf!«

Kart lachte kalt. »Warum? Kannst du die Wahrheit nicht ertragen, kleiner Held? Bist du nicht gekommen, um alles zu erfahren? Um beim König der Regenbogen Hilfe zu erbitten? Nun, der Weg dorthin ist weit und voller Gefahren, aber er führt auch über den Pfad der Wahrheit. Erkenne, was du getan hast, und gib auf.«