Er zog die Hand wieder zurück.
Nein, dachte er.
Er hatte einmal getötet, einmal zuviel. Er würde es nie wieder tun.
Er drehte sich um, näherte sich der Kante und blieb einen halben Schritt vor dem Nichts stehen. Die Brücke war da, wie der Weltenwächter gesagt hatte: ein breiter, in kühnem Bogen geschwungener Steg in allen Farben des Regenbogens, dessen Ende sich in der Unendlichkeit verlor.
Langsam, mit festen Schritten trat Kim auf die Brücke und ins Nichts hinaus.
XVIII
Stunde um Stunde wanderte Kim über den Regenbogen. Die Weltenmauer fiel hinter ihm zurück, und mit ihr verschwand auch die letzte Verbindung zur Wirklichkeit. Kim konnte nicht feststellen, wie weit er ging oder ob er sich überhaupt bewegte. Seine Füße schienen die Brücke nicht zu berühren, und als er sich herabbeugte und mit den Fingern über den regenbogenfarbenen Grund tastete, fühlte er nichts. Vielleicht kam er gar nicht voran; vielleicht glitt er schneller als ein Gedanke durch die große Leere zwischen den Welten - er wußte es nicht.
Irgendwann, vielleicht nach Stunden, vielleicht nach Minuten oder Jahren - sein Zeitgefühl war ausgelöscht, seit er diese phantastische Brücke betreten hatte - tauchte der Rand eines Kliffs, gleich dem, von dem er aufgebrochen war, vor ihm auf, nur daß es hier keine Weltenmauer gab, sondern nichts als eine endlose Ebene von einer Farbe, die er nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte. Er wollte stehenbleiben und die seltsame Erscheinung in Ruhe betrachten, aber seine Beine bewegten sich ohne sein Zutun weiter, und schon nach wenigen Augenblicken verließ er die Brücke und schritt auf den festen Grund hinaus.
Er wandte den Kopf und sah, wie der Regenbogen hinter ihm langsam verblaßte. Seine Farben verloren an Leuchtkraft, wurden transparent und verschwanden.
»Willkommen, Mensch!« sagte eine mächtige Stimme.
Kim prallte erschrocken zurück. Vor ihm hockte ein riesiger schwarzer Vogel. Er ähnelte einem Adler, nur war er viel, viel größer, mit stumpfschwarzem Gefieder und einem armlangen, gefährlich aussehenden Schnabel.
»Wer bist du?« fragte Kim unsicher.
»Mein Name ist Rok«, antwortete der schwarze Vogel. »Ich bin der letzte Wächter, Hüter des Regenbogens und Herr der Unendlichkeit. Und wer bist du?«
»Ich heiße Kim«, antwortete Kim mit fester Stimme, obwohl ihm der Anblick des Vogels solchen Schreck einjagte, daß ihm die Knie zitterten. »Und ich bin auf der Suche nach dem Regenbogenkönig.«
Der Vogel starrte Kim einen Moment durchdringend an und begann dann krächzend zu lachen. »Du?« sagte er, nachdem er wieder zu Atem gekommen war. »Du willst zum König der Regenbogen? Ausgerechnet du?« Unvermittelt wurde er wieder ernst. »Warum?«
»Ich komme, um ihn um Hilfe zu bitten.«
»Hilfe? Wofür? Deine Probleme interessieren hier niemanden.«
»Ich will nichts für mich«, sagte Kim hastig, »ich will um Hilfe für Märchenmond bitten. Seine Völker sind in großer Gefahr.«
»Märchenmond...« Rok legte nachdenklich den Kopf schief. »Ja, ich glaube, ich habe diesen Namen schon einmal gehört. Und warum glaubst du, daß es hier jemanden geben könnte, der sich um eure Probleme schert?«
»Ich... das Orakel...« stotterte Kim. »Ich meine, es gab eine Prophezeiung...«
»Ach was«, unterbrach ihn Rok grob. »Prophezeiung! Quatsch mit Soße. Ihr Menschen habt schon alles mögliche prophezeit, Gutes und Schlechtes oder was ihr dafür haltet. Humbug. Ihr prophezeit euch immer das zusammen, was euch gerade in den Kram paßt. Du mußt dir schon einen besseren Grund ausdenken, wenn ich dich vorbeilassen soll.« Kim verzweifelte fast. So dicht vor dem Ziel, und nun sollte womöglich alles umsonst gewesen sein, nur wegen dieses dummen Vogels.
»Meine Gründe gehen dich gar nichts an«, sagte er wütend. »Ich habe größere Gefahren überwunden, um hierherzugelangen. Ich werde mich nicht von dir aufhalten lassen!« Seine Hand glitt wie von selbst an den Gürtel, und auf wundersame Weise steckte sein Schwert wieder in der Scheide, als hätte er es niemals fortgeworfen. All seine edlen Vorsätze waren vergessen. Mit einer entschlossenen Bewegung zog er die Waffe hervor, trat drohend auf Rok zu und sagte: »Verschwinde. Gib den Weg frei!«
Rok lachte amüsiert. »Mach dich nicht lächerlich, Menschlein.«
Kim sah rot. Er schwang seine Waffe und ließ sie mit aller Wucht auf das schwarze Gefieder heruntersausen. Aber die Klinge prallte ab, als wäre sie auf Stein geschlagen.
»Ohooo!« machte Rok. »Frech wird er auch noch!« Er hob einen Fuß, schubste Kim mit spielerischen Bewegungen zurück und klapperte drohend mit dem Schnabel. »Du bist nicht der erste, der versucht, mir mit Gewalt beizukommen!«
Kim schrie zornig auf und hackte nach Roks Schnabel. Der Vogel nahm den Streich ungerührt hin, schlug mit den Flügeln und sprang dann mit einem Satz auf Kims Brust.
»Laß den Quatsch!« sagte er drohend. »Wenn du keine besseren Argumente hast als dein Schwert, trollst du dich am besten wieder dorthin zurück, woher du gekommen bist.«
Kim stöhnte befreit auf, als der Vogel endlich von seiner Brust heruntersprang und sich wieder auf seinen Platz hockte. Mit einem Mal kam er sich schäbig vor. Er wußte selbst nicht, was in ihn gefahren war, Rok mit Waffengewalt angreifen zu wollen, und plötzlich schämte er sich. Schuldbewußt schob er die Waffe in den Gürtel zurück.
»Ich...« begann er stockend. »Verzeih, Rok. Aber ich habe fast schon vergessen, daß es auch noch andere Wege gibt, ans Ziel zu gelangen, als mit der Waffe in der Hand.«
Rok blinzelte wieder. Er hob sich auf den Beinen hoch und drehte sich herum, und Kim sah, daß der Vogel nur auf der einen Seite schwarz war. Die andere Seite war weiß, so strahlend weiß, daß Kim geblendet die Hand vor die Augen hielt.
»Wahr gesprochen, Kim«, sagte Rok. Seine Stimme klang, als schlüge man ein riesiges, dünnes Glas an. »Und ich lese in dir, daß du auch glaubst, was du sagst. Das ist gut so, denn mit Gewalt und Haß im Herzen gelangt niemand zur Regenbogenburg. Du bist also gekommen, um Hilfe zu erbitten?«
Kim nickte zaghaft.
»Und was willst du tun, wenn man sie dir verweigert?«
»Ich... ich weiß es nicht«, sagte Kim ratlos. »Um ehrlich zu sein, darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.«
Rok schwieg eine Weile. Dann schüttelte er den Kopf. »So einer wie du ist mir noch nicht vorgekommen«, murmelte er. »Kommt hierher und weiß nicht einmal, was er will. Was willst du dem Regenbogenkönig denn sagen?«
»Ich will ihn bitten, Märchenmond zu retten.«
»Märchenmond. Soso. Sosososo. Du bist naiv, weißt du das?«
»Ich bin nicht naiv!« fuhr Kim auf. »Ich...«
Rok drehte sich blitzschnell um und wandte ihm wieder seine schwarze Seite zu. »Ja?« krächzte er lauernd. »Nur weiter, du unbeherrschter kleiner Dummkopf. Red nur weiter.«
Kim faltete betreten die Hände hinter dem Rücken. »Entschuldige«, sagte er leise. »Ich weiß, ich bin manchmal unbeherrscht, aber...«
»Aber du glaubst, ich würde das verstehen, nach all den Gefahren, die du überstanden hast«, beendete Rok den Satz, ihm nun wieder seine weiße Seite zuwendend. »Vielleicht hast du recht, kleiner Held. Ich muß gestehen«, krächzte er, »daß du mir Kopfzerbrechen bereitest. Ich kann dich nicht durchlassen, solange du mir keine besseren Gründe vorlegst. Aber ich kann dich auch nicht zurückschicken, weil es kein Zurück gibt.« Er schüttelte den Kopf. »Mir sind schon viele untergekommen. Manche wollten Macht und Ruhm, andere Gold oder...« Er lachte, als erzähle er etwas ungemein Komisches, »Unsterblichkeit. Aber einer, der nicht weiß, was er will, so einer war noch nicht hier.«
»Aber ich weiß, was ich will«, sagte Kim.