»Warlord?«
»Commander Arcanas Heimatschiff. Sie ist so groß wie ein Mond, aber wendig wie ein Lichtstrahl«, zitierte er den Werbetext auf der Rückseite der »Sternenkrieger«. »Die Vipern werden dagegen für besondere Einsätze benutzt. Sie sind so klein, daß sie fast überall ungesehen starten und landen können. Und wenn sie in Schwärmen angreifen, sind sie durch ihre Schnelligkeit gefährlicher als ein großes Schiff.« Vater lächelte. Er stellte das Modell behutsam auf das Bord zurück und murmelte undeutlich: »Die Zeit der großen Raumschlachten scheint ja, Gott sei Dank, vorbei zu sein.« Laut sagte er: »Ich bin eigentlich nur gekommen, weil ich dir vorhin nicht gute Nacht gesagt habe. Entschuldige bitte.«
»Schon in Ordnung.«
Sein Vater ging zur Tür und wandte sich noch einmal um. »Über deine Bücher unterhalten wir uns morgen weiter. Vielleicht können wir erreichen, daß sich Commander... wie heißt er doch noch?«
»Arcana«, sagte Kim.
»Daß sich Commander Arcana mit deinen Hausaufgaben arrangiert.« Sein Blick fiel auf den Schreibtisch, und er trat hinzu, um den Taschenrechner auszuschalten. Dann verließ er das Zimmer.
Kim starrte die geschlossene Tür an. Er hatte seinen Vater noch nie so erlebt, und er vermutete, daß er auch jetzt nur einen ganz kleinen Blick hinter die Maske getan hatte, die er normalerweise trug. Er war bestimmt nicht heraufgekommen, um sich mit ihm über Commander Arcanas Vipern zu unterhalten. Auch nicht, um ihm gute Nacht zu sagen.
Er verschränkte gähnend die Arme hinter dem Kopf und schloß die Augen. Plötzlich fühlte er sich furchtbar müde. Er hatte Durst, und einen Moment lang überlegte er, ob er aufstehen und in die Küche hinuntergehen sollte, um ein Glas Milch zu trinken. Aber die Müdigkeit hielt ihn fest. Er drehte sich auf die Seite, schaltete die Nachttischlampe aus und schloß endgültig die Augen.
Er schlief sofort ein, aber es war kein ruhiger Schlaf. Immer wieder warf er sich von einer Seite auf die andere. Er hatte einen verrückten, wirren Alptraum, in dem die Klinik, Dr. Schreiber, Commander Arcana und ein kleines, weißes Gesicht, das in einem gigantischen weißen Ozean zu ertrinken drohte, eine Rolle spielten. Er bemühte sich aufzuwachen, aber es gelang ihm nicht. Er versuchte sich zu kneifen, aber der Alptraum hatte ihn fest in seinen Fängen und lähmte ihn. Kim stöhnte, konzentrierte sich dann und - fuhr mit einem halblauten Schrei hoch.
Sein Herz hämmerte. In seinem Mund war ein bitterer, metallischer Geschmack, und sein Schlafanzug klebte in großen, feuchten Flecken an Brust und Rücken.
Er schüttelte den Kopf und schluckte ein paarmal, um den bitteren Geschmack im Mund loszuwerden.
Das Haus war vollkommen ruhig. Der Mond war weitergewandert und schien jetzt nicht mehr ins Zimmer herein. Draußen vor dem Fenster herrschte tiefschwarze Nacht.
Plötzlich hörte Kim ein leises, knarrendes Geräusch.
Sein Herz schien mit einem schmerzhaften Schlag bis in den Hals hinaufzuhüpfen, und er hatte das Gefühl, als führe ihm eine eisige, elektrisierende Hand über den Rücken.
Das Geräusch wiederholte sich, dann noch einmal und immer wieder. Er kannte dieses Geräusch. Es war das Knarren und Quietschen des Schaukelstuhles neben seinem Bett! Langsam, mit klopfendem Herzen öffnete er die Augen, starrte zur Decke hinauf und ließ den Blick dann vorsichtig an der Wand herabwandern. Er spürte plötzlich, daß außer ihm noch jemand im Zimmer war!
Für einen Augenblick preßte er die Lider zusammen, sammelte all seinen Mut und zwang sich dann, die Wand hinter seinem Bett anzusehen.
Auf der weißen Rauhfasertapete war deutlich der Schatten des hin- und herschwingenden Schaukelstuhles zu erkennen. Und in ihm saß der Schatten eines Mannes!
Kim fuhr mit einem leisen Schrei herum, setzte sich vollends auf und preßte den Rücken dicht gegen die Wand. Der Schaukelstuhl bewegte sich sacht vor und zurück, und darin saß ein weißhaariger, bärtiger alter Mann, der Kim aus dunklen Augen ansah. Es war der Alte, den er an diesem Tag schon zweimal gesehen hatte.
Kim schluckte. Er rang nach Luft und preßte die Hände flach gegen die Wand in seinem Rücken, um ihr Zittern zu verbergen.
»Wer... wer sind Sie?« fragte er heiser. Er hatte Mühe, die Worte hervorzustoßen.
Der Alte lächelte wieder dieses seltsame Lächeln, bei dem sich kein Muskel in seinem Gesicht regte.
»Du kennst mich«, sagte er ruhig. Seine Stimme war tief und durchdringend. Sie paßte zu ihm. Kim hätte sich keine andere Stimme für ihn vorstellen können. Commander Arcana mußte eine solche Stimme haben, dachte er.
»Ich... ich glaube, ich habe Sie schon einmal gesehen«, antwortete er zögernd.
»Zweimal«, verbesserte ihn der Alte. »Zuerst im Krankenhaus, als du deine Schwester besucht hast, und später noch einmal auf der Straße. Erinnerst du dich nicht mehr?«
»Doch.« Kim nickte. »Sie... Sie kennen Rebekka?« fragte er verwundert.
Ein belustigtes Lächeln glitt über das Gesicht des alten Mannes. Er hörte auf zu schaukeln, richtete sich gerade auf und strich sich mit der Linken über den Bart.
»Natürlich kenne ich deine Schwester, Kim«, sagte er. »Und ich kenne auch dich. Deine kleine Schwester hat viel von dir erzählt.«
»Sie... wieso... ich meine...« stotterte Kim verwirrt.
»Ich kenne euch beide«, nickte der alte Mann. »Ich kenne auch deine Eltern und deine Tante Birgit, aber sie kennen mich nicht. Leider, möchte ich sagen. Aber tu mir den Gefallen und hör endlich auf, mich ›Sie‹ zu nennen. Wir sind doch Freunde, oder?«
Kim nickte lebhaft. »Natürlich, wenn Sie... wenn du nichts dagegen hast. Aber wie soll ich dich nennen?«
»Nenne mich, wie du willst«, antwortete der Alte. »Arcana vielleicht. Ich glaube, dieser Name würde dir gefallen.«
Arcana? Kim überlegte. Commander Arcana war größer als dieser alte Mann, jünger und stärker, und während die Züge des Alten Güte und Weisheit prägten, dominierte im Gesicht von Commander Arcana Kraft und Entschlossenheit. Er schüttelte den Kopf. »Du bist nicht Commander Arcana«, sagte er bestimmt.
Der Alte schmunzelte. »Doch, Kim, das bin ich. Ich bin Commander Arcana, aber auch Gandalf, Merlin und der Mann im Mond, wenn du es so willst. Man hat mir viele Namen gegeben, und mir ist jeder recht.« Als er die Ratlosigkeit in Kims Gesicht sah, schüttelte er leicht den Kopf und fügte hinzu: »Wenn du möchtest, nenne mich Themistokles. So hat mich deine Schwester immer genannt.«
»Themistokles?« Kim legte den Kopf schief und musterte sein Gegenüber. Der Name paßte, fand er. »Gut. Aber wieso hat dich meine Schwester so genannt? Kennt sie dich denn?«
»Selbstverständlich«, sagte Themistokles. »Deine Schwester und ich sind gute Freunde.« Er hob beschwichtigend die Hand. »Gemach, Kim, gemach«, sagte er. »Wir haben zwar nicht viel Zeit, aber ich werde dir alles erklären. Ich bin gekommen, um dich um Hilfe zu bitten.«
»Mich?« fragte Kim zweifelnd. Was in aller Welt mochte es geben, bei dem er, ein kleiner, schwacher Junge, einem so klugen Mann wie Themistokles helfen konnte?
Themistokles lächelte, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Es gibt etwas, Kim«, sagte er leise. »Etwas, wobei nur du helfen kannst. Oder, um es anders auszudrücken: Es gibt jemanden, dem nur du helfen kannst und sonst niemand. Nicht einmal ich. Deiner Schwester!«
»Rebekka?« stieß Kim hervor.
Themistokles nickte.
»Aber... woher kennst du Rebekka überhaupt?«
»Ich kenne sie schon lange«, erklärte Themistokles. »Sie hat mich oft besucht, dort, wo ich lebe. Sie hat viele Freunde drüben. In Wahrheit«, fügte er nachdenklich hinzu, »hat jeder sie gern. Um so wichtiger ist es, daß du uns hilfst.«
Kim schüttelte verwirrt den Kopf. »Aber ich... ich verstehe nicht«, sagte er. »Wo ist das, wo du herkommst? Und wie könnte ich dir helfen?«
»Wo ich herkomme?« Themistokles nickte wieder. Er schien überhaupt jeden Satz mit einem Nicken zu beenden. »Das Land, woher ich komme, heißt Märchenmond.«