»Das weißt du nicht. Du glaubst es zu wissen, aber das ist ein Irrtum. Ich frage mich ernsthaft, was ich nun mit dir tun soll?« Sein weißes Auge musterte Kim mit einem seltsamen, langen Blick. Plötzlich nickte er, trat einen Schritt auf Kim zu und breitete die Flügel aus. »Setz dich auf meinen Rücken«, sagte er. »Es ist gegen die Vorschrift, aber ich kann dich auch nicht hierbehalten, wie du sicher verstehen wirst. Mögen sich andere die Köpfe darüber zerbrechen, was mit dir geschehen soll.«
Kim betrachtete die riesigen Schwingen Roks, und Karts Warnung fiel ihm ein. War dies eine der Fallen, vor denen er ihn gewarnt hatte? Oder wollte der schwarze Baron mit seinem letzten Wort doch nur Mißtrauen in sein Herz säen?
»Nun komm schon«, drängte Rok, »ehe ich es mir anders überlege.« Er wandte den Kopf, und für einen Moment sah Kim die schwarze Seite seines Körpers und das heimtückische Funkeln in seinem Auge. Kim zuckte hilflos die Schultern, schwang sich auf Roks breiten Nacken und klammerte sich in seinem Gefieder fest.
Rok nahm Anlauf und schwang sich mit einem kraftvollen Satz in die Luft empor. Kim zog den Kopf ein und klappte eilig das Visier herunter, als ihm die eisige Luft ins Gesicht stach. Rok gewann mit kraftvollen Flügelschlägen rasch an Höhe.
»Wohin fliegen wir?« rief Kim gegen das Rauschen der Luft. »Nirgendwohin«, entgegnete Rok, »weil es hier kein Da und Dort gibt. Wenn du wirklich zur Regenbogenburg willst, ist es nicht weit. Aber wenn du zweifelst, erreichst du sie nie, und wenn du tausend Jahre wanderst.«
Kim seufzte. Es wäre ja auch zu schön gewesen, eine klare und eindeutige Antwort zu bekommen. Rok flog schneller und immer schneller, bis die Ebene unter ihnen wie ein fliegender Teppich dahinzurasen schien. Selbst Rangarig hatte nicht annähernd eine solche Geschwindigkeit erreicht, dachte Kim mit leisem Bedauern.
Nach einer Weile wurden Roks Flügelschläge langsamer, und schließlich setzte er in sanftem Bogen auf der Ebene auf und hieß Kim, von seinem Rücken zu steigen.
Kim gehorchte zögernd. Von der versprochenen Regenbogenburg war keine Spur zu entdecken. Die Ebene war leer wie eh und je.
»Wo sind wir?« fragte Kim leise.
»Am Ziel«, antwortete Rok, und diesmal stand er so, daß Kim beide Seiten, die schwarze und die weiße, sehen konnte. »Jedenfalls fast. Weiter können wir dich nicht begleiten. Ob du dein Ziel erreichst, liegt ganz allein bei dir. Wenn es dein fester Wille ist, kannst du es schaffen.« Damit schwang er sich mit einem mächtigen Satz in die Luft, flog noch eine Schleife und zog mit langsamen Flügelschlägen von dannen. Kim blickte ihm nach, bis er zu einem winzigen Punkt zusammenschrumpfte und dann ganz verschwand.
Kim sah sich unschlüssig um. Die Ebene war leer wie zuvor, und er wußte nicht einmal mehr, aus welcher Richtung er gekommen war. Vergeblich versuchte er, einen Horizont oder irgendeine sichtbare Begrenzung auszumachen. Er war allein, vollkommen allein, und zum ersten Mal in seinem Leben begann er die innerste Bedeutung des Wortes Einsamkeit zu erahnen.
Er drehte sich einmal um seine Achse und ging dann in eine beliebige Richtung los. Seine Schritte waren seltsam leicht, er spürte weder das Gewicht seines Körpers noch der Rüstung. Er begann seine Schritte zu zählen, um wenigstens ungefähr zu wissen, wie weit er wanderte, aber nachdem er bei fünfhundert, dann bei tausend und schließlich bei zweitausend angelangt war, gab er das Zählen wieder auf. Wie hatte Rok gesagt: Wenn es dein fester Wille ist, kannst du es schaffen. - Ja! Es war sein fester Wille. Und er würde weiterwandern, egal, wie weit!
Als wäre dieser Gedanke der Schlüssel gewesen, erhob sich von einem Moment zum anderen aus dem Nichts ein prächtiges, in allen Farben des Regenbogens leuchtendes Schloß. Kim starrte wie gebannt auf die himmelstürmenden, buntschillernden Wälle und Türme. Die Regenbogenburg... Kim konnte sich keinen Namen denken, der besser zu diesem Traum aus Farben und Formen gepaßt hätte. Selbst Gorywynn und Schloß Weltende schrumpften im Vergleich mit der Regenbogenburg in nichts zusammen. Noch während Kim dastand und schaute, verblaßte deren Bild in seiner Erinnerung und war dann ganz verschwunden.
Der Anblick der Burg raubte Kim den Atem. Er versuchte vergeblich, Materie hinter den leuchtenden Farben zu erkennen. Die Burg schien ganz aus reinen, kräftigen Farben von unvorstellbarer Intensität erbaut zu sein, Farben, die sich über das gesamte Spektrum und weit darüber hinaus erstreckten. Farben, die er sich nie hätte vorstellen können; Farben für die die menschliche Sprache keine Namen hatte; die keines Menschen Auge je erblickt hatte.
Im unteren Drittel der Burgmauer öffnete sich ein riesiges, prachtvolles Tor, einem sich öffnenden Blütenkelch gleich, und ein breiter, schillernder Regenbogen brach hervor, flutete über die Ebene und bildete eine breite, schillernde Straße. Kim trat zögernd darauf, und unter seinen Füßen schien sich eine wahre Farbexplosion zu vollziehen.
Langsam, ganz benommen vor Staunen, ging Kim auf die Burg zu. Aber es war nicht nur die räumliche Entfernung, die er überwand. Er merkte es nicht, doch mit jedem Schritt, den er sich den schimmernden Wänden näherte, trat er ein Stück in die eigene Vergangenheit zurück. Er erlebte seine Reise noch einmal in umgekehrter Reihenfolge, Schritt für Schritt, Tag für Tag, jeder Schritt eine Stunde, alle zehn Meter ein Tag. Wie bei einem rückwärtsgespulten Film liefen sämtliche Ereignisse noch einmal vor seinen Augen ab. Er kehrte zurück zur Burg am Ende der Welt, erlebte noch einmal den Kampf mit dem Tatzelwurm, ging durch die Klamm der Seelen, flog noch einmal über die unendlichen Weiten Märchenmonds, getragen vom Wind und Rangarigs kräftigen Flügeln. Weiter ging die Reise, zurück nach Gorywynn, Caivallon und dem Schattengebirge, und mit jedem Schritt erlosch ein Stück seiner Erinnerung.
Als Kim durch den weitgeschwungenen Torbogen der Regenbogenburg trat, wußte er nicht mehr, warum er hierhergekommen war, nicht mehr, wo er war, nicht einmal seinen Namen. Er war plötzlich nur noch ein neugieriges, staunendes Kind, das sich an all den Wundern, die sich vor seinen Augen auftaten, erfreute. Er hatte seine Freunde und Feinde vergessen, und mit der Erinnerung an sie war auch die Furcht von ihm abgefallen. Das mächtige Tor schloß sich lautlos hinter ihm, und Kim empfand nichts als Verwunderung und Freude an den ihn umgebenden Farben. Er ging durch einen Korridor aus strahlendem Blau und golddurchwirktem Orange und erreichte schließlich eine zweite, kleinere Tür.
Sie führte in einen herrlichen Garten. Knorrige alte Bäume verbreiteten kühlen Schatten, und im saftigen Gras blühten Tausende und Abertausende bunte Blumen. Schmetterlinge mit farbenprächtigen, durchsichtigen Flügeln flatterten umher, und aus den Tiefen des Gartens schallte ihm ein Chor fröhlicher Vogelstimmen entgegen.
Kim trat aus der Tür in den Garten hinaus. Hinter ihm schloß sich die Wand wieder, ohne die geringste Spur einer Öffnung zu hinterlassen. Für einen kurzen Moment meinte Kim eine warnende Stimme zu hören, die ihm etwas zuflüsterte. Gerade was harmlos erscheint, mag eine tödliche Gefahr bergen. Aber der Gedanke entschlüpfte ihm, bevor er ihn zu Ende denken konnte, und wenige Augenblicke später hatte er ihn schon vergessen.
Seine Füße versanken bis zu den Knöcheln im weichen Gras. Einer der großen bunten Schmetterlinge flatterte ohne Scheu herbei und setzte sich auf Kims ausgestreckte Hand. Kim beobachtete eine Zeitlang das Spiel seiner zerbrechlichen Fühler, strich dann dem Schmetterling vorsichtig mit dem Daumennagel über den Rücken und hob die Hand, um ihn davonfliegen zu lassen. Ein kleiner, glasklarer Bach schlängelte sich in munteren Windungen durch den Garten. Kim kniete am Ufer nieder, tauchte die Hände hinein und trank ein paar Schlucke des eiskalten Wassers. Es schmeckte köstlich, besser als alles, was er jemals zuvor getrunken hatte.
Von irgendwo wehte Musik herüber, helle, fröhliche Musik. Als Kim den Kopf hob, erblickte er eine Schar lieblicher Feen, die aus dem nahen Waldrand hervorschwebten und zu den Klängen der zauberhaften Musik tanzten und sangen. Kim stand auf und winkte mit der Hand. Die Feen blieben stehen, hörten auf zu singen und schauten ihm neugierig entgegen.