»Keine Angst«, rief Kim. »Ich tu euch nichts.« Er sprang mit einem Satz über den Bach, lief durch das hohe Gras auf die Feen zu und blieb drei Armlängen vor ihnen stehen. Sie waren groß, sehr groß, und so schlank, daß sie beinah zerbrechlich wirkten. Ihre Körper waren durchscheinend, wie milchiges Glas, so daß das Licht der Sonne durch sie hindurchschimmerte und sie wie aus Wolken geformt schienen.
»Sei gegrüßt!« sagte eine der Feen. »Wer bist du?«
Kim überlegte einen Moment. »Das weiß ich nicht«, antwortete er dann ehrlich. Trauer überkam ihn, daß er seinen Namen vergessen hatte, und einen Augenblick lang schämte er sich vor den Feen. Aber die Zauberwesen schienen ihm seine Vergeßlichkeit nicht zu verübeln.
»Das macht nichts«, sagte die Fee, die ihn zuerst angesprochen hatte. »Dann paßt du zu uns. Keiner hat hier einen Namen. Wir brauchen keinen. Brauchst du einen Namen? Du kannst dir einen aussuchen, wenn du willst.«
Kim schüttelte den Kopf. »Wenn ihr keine Namen braucht, brauche ich auch keinen«, sagte er.
Die Fee lachte. »Das ist gut. Komm. Spiel mit uns. Willst du mit uns spielen?«
»O ja«, stimmte Kim freudig zu, und zusammen mit den Feen begann er zu tanzen und zu singen. Sie liefen über die Wiese, tollten am Ufer des Baches entlang und kehrten schließlich zum Waldrand zurück.
»Komm mit uns«, sagte eine der Feen. »Wir kennen einen Ort, wo es noch viel schönere Spiele gibt. Und viele nette Leute. Leute wie du.«
»Wie ich?« Kim konnte sich das nicht vorstellen. Aber die Fee hatte ihn neugierig gemacht, und so folgte er ihnen. Doch als er in den Schatten der Bäume trat, hatte er schon wieder vergessen, warum er eigentlich mitkam. Es genügte ihm, mit den Feen zu tanzen, zu singen und zu spielen. Sie liefen zwischen den glatten, moosbewachsenen Stämmen der Bäume hindurch, und nach einiger Zeit erreichten sie eine weite Lichtung, auf der sich noch mehr Feen tummelten, aber auch alle möglichen anderen Wesen. Wesen, halb Mensch, halb Pferd, menschenähnliche Gestalten in weißen, wallenden Gewändern mit herrlichen Flügeln, aber auch Menschen wie er. Sie alle wirkten heiter und gelöst, und ihr Singen und Lachen war bis weit in den Wald hinein zu hören.
Einige Männer hörten mit ihrem Spiel auf, als sie Kim zwischen den Feen entdeckten, und kamen ihnen lachend entgegen. Niemand fragte nach seinem Namen, wer er sei oder woher er käme. Sogleich nahmen sie Kim in ihre Mitte, und Kim hatte vom ersten Augenblick an das Gefühl dazuzugehören, Teil einer großen, glücklichen Familie zu sein. Unbeschwert folgte er seinen neuen Freunden zum Ufer des kleinen Sees, an den die Lichtung grenzte, hängte die Füße ins Wasser und lachte hell auf, als ihm jemand einen Schubs gab, so daß er bäuchlings ins Wasser fiel. Er kroch auf Händen und Knien ans Ufer, schüttelte sich die Nässe aus den Kleidern und ließ sich dann aus purem Übermut noch einmal rücklings ins Wasser fallen.
Als er das zweite Mal ans Trockene kroch, sah er die Elfe. Es war ein kleines, dünnes Wesen, zerbrechlich wie Glas und mit schlanken, grazilen Gliedern. Ihr Kleid schien aus gewobenen Sonnenstrahlen zu sein, und ihr Gesicht war, wie ihr Körper, schmal und weiß und verwundbar.
Rebekkas Gesicht.
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Hammerschlag. Von einer Sekunde zur anderen wußte er wieder, wer er war, warum er hierhergekommen und was seine Aufgabe war.
Die Elfe sah ihn still, mit traurigem Lächeln an.
Kim stöhnte. Mit einem Mal erkannte er, wie leer und sinnlos die Fröhlichkeit um um ihn herum war. Es war nicht die Fröhlichkeit des Herzens, sondern die des Vergessens, eine Fröhlichkeit, die mit dem Preis endgültiger Erstarrung bezahlt wurde. All diese Menschen hier, jeder einzelne, waren irgendwann einmal den gleichen Weg wie er gegangen, aber keiner von ihnen hatte den Regenbogenkönig auch nur gesehen. Ihrer aller Weg endete hier, in diesem wunderbaren, verzauberten Garten des Vergessens, einem Ort, an dem alle Wünsche unwichtig und alle Sorgen nichtig wurden. Das also war es, was Kart gemeint hatte. Das letzte, gefährliche Hindernis auf dem Weg zum Regenbogenkönig: vollkommene Weltvergessenheit bis zum entpersönlichten Selbst. Auch er, Kim, hatte alles vergessen, hatte lange bevor er hergekommen war, ja schon ehe er aus Gorywynn aufgebrochen war, den eigentlichen Grund seiner Reise vergessen. Er war gekommen, um seine Schwester aus Boraas' Gefangenschaft zu befreien.
Und er würde es tun.
Er wollte sich umdrehen und zum Waldrand zurückgehen, als ihm die Stille auffiel. Das Lachen und Singen war verstummt, Menschen und Märchenwesen standen reglos da und starrten ihn an. Sekundenlang hatte er den Eindruck, als ob die Unbekümmertheit in ihren Augen Mißtrauen und Haß gewichen wäre.
»Laßt mich vorbei«, sagte er zu einer Gruppe von Männern, die ihr Würfelspiel fallengelassen hatten und ihm den Weg verstellten.
Die Männer rührten sich nicht.
»Laßt mich«, sagte er noch einmal. »Ich muß fort.«
»Niemand kann fort von hier«, antwortete einer der Männer ruhig. »Du würdest unser aller Glück zerstören, wenn du gingest.« Die Drohung in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Kim spannte sich. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, daß diese fröhlichen Menschen plötzlich zu einer Gefahr werden sollten.
»Bleib«, sagte ein anderer sanft. »Es ist schön hier. Wir alle kamen vor langer Zeit hierher, voller Pläne und Hoffnungen wie du, und wir alle sind geblieben und glücklich geworden. Du wirst sehen, es ist leicht. Bald wirst du deinen Kummer vergessen haben und mit uns fröhlich sein. Für immer. Denn es gibt hier weder Alter noch Tod.«
Kim schaute zu der Elfe mit Rebekkas Gesicht hinüber und sah sie lange an. »Ich kann nicht«, sagte er leise. »Bitte, versteht mich. Ich kann nicht hierbleiben. Ich würde zu viele enttäuschen.«
»Du wirst sie vergessen, bald. Was immer der Grund war, der dich hergeführt hat, er ist unwichtig. Du wirst glücklich sein, wenn du bleibst. Und gibt es etwas im Leben eines Menschen, was wichtiger wäre, als glücklich zu sein?«
Kim nickte. »Ja, das gibt es. Und nun laßt mich vorbei.«
Die Reihe rückte bedrohlich näher. Kim wich unwillkürlich zurück, bis er bis zu den Waden im Wasser stand.
»Wir lassen nicht zu, daß du gehst«, sagte einer der Männer. Kims Herz begann zu hämmern. Jeder einzelne dieser Männer war ihm körperlich überlegen, und sie waren jetzt keine verspielten Kinder mehr, sondern gefährliche Gegner.
»Warum wollt ihr nicht, daß ich gehe?« fragte er mit zitternder Stimme. »Ich will nichts von euch. Ihr könnt bleiben und tun und lassen, was ihr wollt.«
»Du würdest alles zerstören. Noch nie ist es einem von uns gelungen, diesen Ort wieder zu verlassen. Und das ist gut so. Denn gelänge es einem, auch nur einem einzigen, so wüßten wir, daß wir unser Ziel nicht erreicht haben, daß es hinter diesem Garten noch etwas anderes gibt, und wir könnten nicht mehr glücklich sein. So aber können wir wenigstens vergessen, wenn es uns schon nicht vergönnt war, ans Ziel unserer Träume zu gelangen.«
Kims Hand fuhr an den Gürtel. Sein Schwert glitt scharrend aus der Scheide, aber er kam sich dabei lächerlich vor. Er stand einer hundertfachen Übermacht gegenüber.
Er wich einen weiteren Schritt zurück, als die Reihe weiter vorrückte. Sein Umhang legte sich naß und schwer um seine Beine und schien ihn hintenüberziehen zu wollen.
Der Umhang! Laurins Mantel!
Kim hatte auch den Zaubermantel fast schon vergessen gehabt. In diesem Augenblick fiel ihm das magische Kleidungsstück, das er die ganze Zeit wie einen gewöhnlichen Mantel getragen hatte, wieder ein.
Seine Finger krallten sich in das zarte Gewebe. Bring mich weg! dachte er. Mach mich unsichtbar!