Kim wollte schon antworten, doch der Regenbogenkönig schüttelte abwehrend den Kopf. Er legte den Zeigefinger auf die Lippen und bedeutete Kim mitzukommen. Kim folgte ihm zu der schlanken Marmorsäule in der Mitte des Raumes. Der Regenbogenkönig zeigte auf die Glaskugel auf der Spitze der Säule.
»Sieh hinein«, verlangte er.
Kim gehorchte. Im ersten Moment erkannte er nichts außer dem verschwommenen und leicht verzerrten Spiegelbild seines eigenes Gesichts. Dann füllte sich die Kugel mit einer Art Nebel, in dem Hunderttausende winziger, leuchtender Pünktchen zu wimmeln schienen. Als Kim genauer hinsah, merkte er, daß jeder dieser Punkte eine ganze Welt war, so groß wie die Erde oder wie Märchenmond, eine Welt mit Kontinenten und Meeren, Flüssen und Bergen und Ländern. Hunderttausende Welten mit Millionen und Abermillionen Völkern und ebenso vielen Schicksalen und Geschichten, jede so kompliziert und vielschichtig wie die der Erde, zugleich aber unbedeutend und winzig in dieser ungeheuren Vielzahl.
Der Regenbogenkönig legte lächelnd beide Hände auf die Kugel. Einen Moment lang geschah nichts. Dann erlosch das Gefunkel und Geglitzer, und Kim erblickte statt dessen einen wunderschönen, strahlenden Planeten. Das Bild verschwand abermals, und nun erkannte er eine Landschaft - Steppe, Wälder und Berge, einen See und an seinem Ufer eine schimmernde Burg aus Glas und Farben. Gorywynn. Aber wie hatte es sich verändert! Der Himmel über der Burg war schwarz von Ruß und Qualm. Ein gläserner Schutzwall war bereits den Flammen zum Opfer gefallen. Auf dem See trieben Hunderte von Schiffen und Flößen, und die Steppe wurde im weiten Umkreis von Boraas' Heerscharen verfinstert.
»Du hast gesehen«, sagte der Regenbogenkönig, »daß die Welt, aus der du kommst, nur eine von vielen ist. Was auch immer dort geschehen mag, es ist unwichtig, solange der große Plan nicht in Gefahr gerät. Märchenmond mag der Herrschaft Boraas' anheimfallen, aber im Großen wird das nichts ändern. Eure Probleme, so wichtig sie euch auch vorkommen, sind nichtig.«
»Aber das stimmt nicht!« widersprach Kim. »Es kann nicht unwichtig sein, ob ein so herrliches Land wie Märchenmond zerstört wird oder nicht. Wenn du allwissend bist, dann kennst du auch das Schattenreich!«
»Ich kenne es. Aber Gut und Böse ringen ständig miteinander, Kim, und keine Seite kann ohne die andere existieren. Es liegt in der Natur des Menschen, daß er zugleich Teufel und Heiliger sein kann. Schon oft erhob sich das Böse gegen das Gute, und schon oft kamen Männer wie Boraas, um Märchenmond niederzuwerfen. Aber solange ihre Herrschaft auch dauert, irgendwann, nach hundert, tausend oder auch hunderttausend Jahren, wird das Schicksal seine Gunst wieder der anderen Seite zuwenden. Du siehst, es ist nicht notwendig, für die eine oder andere Seite Partei zu ergreifen.«
»So etwas Ähnliches hat Themistokles auch gesagt«, murmelte Kim niedergeschlagen. »Du willst mir also nicht helfen.«
»Doch, Kim. Wenn du mich überzeugst, daß ich eingreifen muß, werde ich es tun. Ich mische mich grundsätzlich nicht in die Schicksale der Völker ein, ohne wirklich gewichtigen Grund.«
»Aber die Existenz Märchenmonds...«
»Ist kein gewichtiger Grund«, unterbrach ihn der Regenbogenkönig. »Märchenmond wird weiterbestehen, wenn nicht morgen, so in ferner Zukunft. Mich einmal einzumischen hieße, mich ein ums andere Mal einmischen zu müssen. Denn nach dir würden andere Bittsteller kommen, von anderen Welten, von anderen Völkern. Vielleicht würde eines Tages statt deiner Baron Kart vor mir stehen und mich um Hilfe bitten, mit ebensoguten Gründen wie du, möglicherweise mit besseren. Wie könnte ich ihm die Hilfe versagen, nachdem ich sie dir gewährte?«
»Du wärest bereit, der schlechten Sache zu dienen?« fragte Kim ungläubig.
»Der schlechten Sache?« Der Regenbogenkönig lächelte. »Was ist schlecht, Kim? Welche Seite ist im Unrecht? Welche im Recht? Immer die, auf der du stehst? Glaubst du nicht, daß Baron Kart und Boraas von der Gerechtigkeit ihrer Sache ebenso überzeugt sind wie du von der deinen? Glaubst du nicht, daß sie mit dem gleichen Recht Hilfe gegen euch verlangen? In Märchenmond hält man mich für mächtig, vielleicht allmächtig, aber das bin ich nicht. Ich bin ein Geschöpf wie du, nur an einem anderen Platz. Es steht nicht in meiner Macht, über das Schicksal eines Volkes zu bestimmen. Auch ich bin nur ein winziger Baustein im Gefüge des Universums, und über mir stehen Mächtigere, die sehr genau darauf achthaben, was ich tue. Deshalb verlange nicht leichtfertig, daß ich Partei ergreife. Ich kann und darf es nicht, außer es gelingt dir wirklich, mich von der Notwendigkeit dessen zu überzeugen. Aber bedenke, daß in all den Ewigkeiten, die ich herrsche, noch keiner bei mir war, dem es gelungen wäre, mich gegen mein besseres Wissen von etwas zu überzeugen.«
Kim trat niedergeschlagen von der Weltenkugel zurück. Der strahlende Glanz des Gebildes erlosch. Kim fühlte sich wie gelähmt. Seine Träume zerbarsten wie ein gläsernes Spielzeug, mit dem er zu grob umgegangen war. Er war hierhergekommen, ohne zu wissen, was ihn erwartete. Er hatte es sich zu leicht vorgestellt.
Es war umsonst gewesen, alles. Vielleicht würde Gorywynn schon in diesem Moment untergehen, ohne daß er etwas daran ändern konnte. Er hatte einen Wunsch frei, einen einzigen, wo zwei vonnöten gewesen wären. Rettete er Gorywynn, ließ er seine Schwester in den Klauen des Zauberers. Und befreite er Rebekka, überließ er Gorywynn, das seine ganze Hoffnung auf ihn gesetzt hatte, seinem Schicksal.
Und dann, von einer Sekunde auf die andere, wußte er die Lösung.
»Ich habe mich entschieden«, sagte er fest. »Du gewährst mir einen Wunsch, egal, was ich erbitte?«
Der Regenbogenkönig nickte. »Wenn es in meiner Macht steht, ihn zu erfüllen, ja.«
Kim atmete hörbar ein.
»Alles, was geschehen ist«, sagte er, »war meine Schuld. Boraas' Plan wäre undurchführbar gewesen, wäre ich nicht nach Märchenmond gekommen.«
»Und was verlangst du jetzt?«
»Daß«, Kim konnte seine Stimme nur mühsam beherrschen, »daß alles so ist, wie es war, bevor meine Schwester in Boraas' Gewalt gelangte. Daß es ist, als wäre ich niemals gekommen.«
Der Regenbogenkönig zögerte lange mit der Antwort. »Ich habe gehofft, daß du diesen Wunsch äußern würdest«, sagte er endlich. »Auch wenn er unerfüllbar ist.«
»Unerfüllbar?« rief Kim. »Aber...«
»Was du verlangst, ist ganz einfach unmöglich, denn einmal Gewesenes kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Aber du hast die letzte Prüfung bestanden.«
»Welche Prüfung?«
»Du erinnerst dich nicht? Nur wer wirklich weiß, was er will, kann mich überzeugen. Du hast den Grund deines Hierseins erkannt. Ich werde dir helfen.«
»Du willst...« Kims Stimme schnappte vor Aufregung fast über. »Du willst uns wirklich helfen?«
»Ich werde es versuchen, Kim. Wie ich schon sagte - ich bin nicht allmächtig.«
Kim deutete ratlos auf die Weltenkugel. »Aber... all diese Welten, der Zaubergarten, die...«
»Meine Macht ist groß, Kim. Aber nur hier, im Zentrum der Kraft, die den Kosmos zusammenhält und lenkt, bin ich stark. Verlasse ich diesen Ort, schwindet auch meine Macht.« Er lächelte begütigend, als er das Erschrecken auf Kims Gesicht sah. »Keine Sorge. Ich bin auch wieder nicht so schwach, wie du jetzt vielleicht glaubst. Auch in der anderen Welt stehen mir Hilfsmittel zur Verfügung, die dich in Erstaunen versetzen werden. Ich werde Boraas aufhalten und Gorywynn retten.«
»Dann komm!« drängte Kim. Das Bild der brennenden Burg stand noch deutlich vor seinen Augen. »Laß uns gehen.«
»Nicht so rasch, Kim. Es sind gewisse Vorbereitungen zu treffen. Du wirst dich noch ein wenig gedulden müssen.«