»Aber Gorywynn wird bereits belagert...«
»Boraas berennt die Märchenfestung schon seit vier Tagen, aber selbst sein Heer ist nicht stark genug, die Festung im ersten Sturm zu nehmen. Wir werden rechtzeitig dort sein. Folge mir jetzt.« Er wandte sich um und verließ den Raum durch dieselbe Tür, durch die sie eingetreten waren. Doch diese führte nun nicht wieder zurück in den Raum, in dem Kim erwacht war, sondern auf einen weiten, sonnenbeschienenen Hof.
Kim riß erstaunt die Augen auf. Am Fuße der breiten, aus puren Farben gefügten Treppe, die von der Tür in den Hof hinunter führte, wartete eine große Anzahl Reiter. Es waren kräftige Männer in goldschimmernden Panzern und goldenen Harnischen. Sie saßen auf riesenhaften weißen Pferden, deren goldenes Geschirr in der Sonne blitzte, als wäre es mit Sternenlicht übergossen. Erregtes Murmeln lief durch die Menge, als Kim und der Regenbogenkönig auf die Treppe heraustraten. Dann erhob sich ein Jubelgeschrei, daß die Treppe unter ihren Füßen zu wanken schien.
Kim sah den Regenbogenkönig verblüfft an. »Was sind das für Männer?« fragte er.
»Du kennst sie nicht? Schau genauer hin.«
Kim gehorchte, und nun erkannte er vertraute Gesichter in der Menge. Er hatte diese Männer - oder wenigstens einige von ihnen - erst vor kurzem gesehen. »Der Zaubergarten«, sagte er überrascht. »Das sind die Männer, die ich im Zaubergarten getroffen habe!«
»Richtig. Und sie jubeln dir zu, Kim, nicht mir.«
»Mir?« fragte Kim zweifelnd. Der Jubel und die Hochrufe wollten nicht verstummen. Die Reiter - sicher vierhundert oder mehr - schwenkten die Waffen, warfen die Helme in die Luft und klatschten Kim begeistert Beifall.
»Sie jubeln ihrem Befreier zu«, erklärte der Regenbogenkönig.
»Befreier? Aber wieso... was habe ich denn getan?«
»Du kennst das Geheimnis des Zaubergartens noch nicht ganz. Wie solltest du auch? Durch Jahrhunderte ist es den größten Helden - und nur ihnen - gelungen, hierherzugelangen, doch nicht einer hat den Weg über die Grenze des Gartens gefunden. Sie alle waren in ihm gefangen, bis zu dem Tag, an dem einer kommen würde, sie zu befreien. Denn sowie ein Mensch über den Zaubergarten hinaus zu mir vordringt, gibt dieser seine Gefangenen frei. Viele von ihnen haben lange, sehr sehr lange warten müssen. Deshalb jubeln sie dir zu, Kim. Sie waren glücklich oder haben sich zumindest eingebildet, glücklich zu sein. Trotzdem haben sie auf einen wie dich gewartet. Führe sie, Kim. Sie werden dir folgen, wohin du willst.«
Kim schwindelte es. Soeben noch hatte er geglaubt, versagt zu haben, und nun stand er da und blickte auf ein mächtiges Heer hinunter, das seinen Befehlen gehorchen sollte. Ein Heer, gebildet aus den Besten der Besten, aus den legendären Helden Märchenmonds, von denen jeder einzelne hundertmal tapferer und stärker war als Boraas' Reiter.
»Führe sie, Kim«, wiederholte der Regenbogenkönig. »Mit ihrer Hilfe wirst du Boraas besiegen können.«
Kim begann langsam die Treppe hinunterzugehen. Der Jubel verstummte nach und nach. Als Kim vor den Reitern stand, schlug ihm erwartungsvolle Stille entgegen.
Die Reihen teilten sich, und einer der Krieger führte ein rabenschwarzes Pferd am Zügel heran. Kims Herz machte einen freudigen Sprung, als er das Roß erkannte.
»Junge!« sagte er mit zitternder Stimme. Er klopfte dem Tier zärtlich den Hals. Dann schwang er sich mit einer entschlossenen Bewegung in den Sattel und griff nach den Zügeln. Das Pferd wieherte erfreut, schüttelte die Mähne und begann unruhig zu tänzeln. Nach all der Zeit, die vergangen war, seit Kim es in Gorywynn zurückgelassen hatte, hatte es ihn sofort wiedererkannt.
»Wir sind bereit, Herr«, sagte einer der Krieger. »Befiehl, und wir werden dir folgen.«
»Bis ans Ende der Welt«, sagte ein zweiter, und vierhundert weitere Stimmen pflichteten ihm lautstark bei.
Kim richtete sich kerzengerade im Sattel auf, zwang Junge mit leichtem Schenkeldruck herum und ritt durch die Reihen der Krieger auf die Stirnseite des Hofes zu. Die Mauern wichen zur Seite, und ein breiter, schillernder Regenbogen nahm sie auf.
»Vorwärts!« rief Kim. Er gab seinem Pferd die Sporen, galoppierte auf den Regenbogen hinauf und jagte an der Spitze seines Heeres in die Unendlichkeit hinaus.
XIX
Eine dichte Wolke aus Rauch und Flammen lag über Gorywynn, und die gläsernen Mauern der Burg hallten wider vom Kampflärm, dem Klirren von Stahl und den Schreien der Verwundeten. Die weite Fläche des silbernen Sees hatte sich in ein Schlachtfeld verwandelt, auf dem Hunderte von kleinen, wendigen Booten vergeblich versuchten, die riesigen schwarzen Kaperschiffe des Feindes zurückzudrängen. Das Wasser des Sees schien zu kochen, und wo es nicht von brennenden Trümmerstücken und sinkenden Schiffen aufgewühlt war, rötete es sich vom Blut der Erschlagenen. Gorywynn brannte an mehreren Stellen, und der erste der drei hintereinander gestaffelten Verteidigungswälle war bereits unter dem Ansturm des schwarzen Heeres gefallen, die Türme niedergestürzt, die schimmernden Glaswände geborsten oder zu häßlichen, rußgeschwärzten Ruinen zerfallen. Auch der zweite Wall war in Gefahr. Noch konnten sich seine Verteidiger gegen die heranwogende Flut der Angreifer halten, aber die Landzunge und die darunterliegende Ebene waren schwarz von Kriegern. Die Sonne verdunkelte sich hinter Schwärmen hin und her zischender Pfeile und Brandgeschosse. Das schwarze Heer hatte riesige Katapulte aufgefahren, mit denen sie Felsbrocken oder scharfkantige Glastrümmer - die Reste des ersten gefallenen Walles - gegen Mauern und Tore schleuderten, und wenn die Pfeile der tapferen Krieger Gorywynns auch fast immer ihr Ziel fanden, so schienen doch für jeden gefallenen Angreifer drei neue aufzustehen, und die Lücken in den feindlichen Reihen füllten sich beinah schneller, als sie entstanden.
Auf der Spitze der Mauer, hoch über dem großen, bronzenen Tor, das die Angreifer noch von dem letzten Schutzwall Gorywynns trennte, stand eine schmale, weißgekleidete Gestalt. Ein flammender Glorienschein schien ihre Schultern zu umgeben, und so viele Pfeile, so viele Speere und Brandgeschosse die Angreifer auch zu ihr hinaufschleuderten, erreichte doch keines sein Ziel, sondern flammte mitten in der Luft grell auf und zerfiel zu Asche.
Wieder prasselte ein Hagel von Steinen und Glastrümmern auf den Wall, und diesmal schienen die Wände unter den Einschlägen zu wanken. Ein dumpfer, knirschender Laut übertönte den Kampflärm, und direkt neben dem Tor zeigte sich ein gezackter Riß. Frenetischer Jubel brandete aus den Reihen der Angreifer. Hunderte schwarzer Reiter warfen sich wie auf ein Kommando der Bresche entgegen, um ins Innere der Burg einzudringen.
Aber noch gab sich Gorywynn nicht geschlagen. Themistokles hob in einer befehlenden Geste die Hand, und ein Hagel von Pfeilen regnete von den Zinnen der Burg hinab und riß mehr als die Hälfte der Angreifer aus den Sätteln. Die anderen stürmten unbeirrt weiter. Neue Reiter sprengten heran, setzten über die Körper ihrer gefallenen Kameraden hinweg und preschten mit Todesverachtung auf die Bresche zu. Wieder sirrten Gorywynns Bögen, und wieder zahlten die Angreifer einen hohen Blutzoll für ihren Wagemut. Aber so viele auch fielen, Boraas' Reserven schienen unerschöpflich. Der Boden war bald schwarz von gefallenen Kriegern, aber immer mehr und mehr stürmten unter gellendem Kriegsgeschrei heran. Und auch die Verteidiger mußten schwere Verluste hinnehmen. Wenn einer der Bogenschützen tödlich getroffen niederstürzte, blieb fast immer eine Lücke zurück, die nicht wieder ausgefüllt werden konnte.
»Ausfall!« befahl Themistokles mit dröhnender Stimme. Ungeachtet des Schlachtlärms war seine Stimme überall im Schloß zu hören, so, wie seine Gestalt wunderbarerweise auch von jedem Punkt Gorywynns aus sichtbar war.
Die Flügel des riesigen Bronzetores schwangen auf, und unter einem neuerlichen Hagel von Pfeilen galoppierten Caivallons Steppenreiter den Angreifern entgegen.