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»Du hast es mir ermöglicht, auch meinen größten Feind zu schlagen, Kim«, fuhr Boraas mit hohntriefender Stimme fort. »Dort, wo er wohnt, in seiner verdammten Burg aus Licht und Farben, wäre er auf ewig unerreichbar gewesen, denn nicht einmal meine Macht reicht aus, den Weg über die Unendlichkeit zu erzwingen. Aber du hast ihn verleitet, seine Heimat zu verlassen und hierherzukommen, wo er schwach und verwundbar ist. Ich danke dir, Kim. Du warst mein treuester Verbündeter!«

Wieder erscholl dieses hohle, grausame Lachen. Dann fuhr ein schwarzer, gezackter Blitz über den Himmel, löschte den Regenbogen endgültig aus und hüllte die Gestalt des Regenbogenkönigs in eine schwarze Wolke ein. Sekundenlang rangen Licht und Dunkelheit miteinander. Eine grelle Farbexplosion entlud sich über dem Schlachtfeld.

Dann brach der Schutz des Regenbogenkönigs zusammen. Er schrie auf, taumelte zurück und sank leblos zu Boden.

Das schwarze Heer brach in ungeheuren Jubel aus. Die zerschlagenen Reihen formierten sich neu, und wie auf einen stummen Befehl hin setzte sich der ganze gewaltige Heereszug in Richtung Gorywynn in Bewegung.

»Zurück!« schrie Themistokles. »Wir müssen fliehen!«

Sie fuhren herum, schlitterten an den Ruinen des Walls hinunter und rannten auf das sich öffnende Bronzetor zu. Der Boden unter ihren Füßen begann zu zittern, als Hunderte und Aberhunderte schwarzer Reiter zur Verfolgung ansetzten.

»Schnell!« rief Themistokles.

Von den Mauern Gorywynns nagelten Pfeile und Wurfgeschosse auf die Verfolger herab. Die großen Tore begannen sich zu schließen, kaum daß die Flüchtenden den Hof erreicht hatten. Aber zu spät. Die Bronzeflügel erbebten unter dem Ansturm des schwarzen Heeres. Mehr und immer mehr schwarze Reiter drangen brüllend und waffenschwingend in den Hof ein. Innerhalb weniger Augenblicke breitete sich ein fürchterliches Handgemenge aus. Die Männer Gorywynns wehrten sich mit dem Mut der Verzweiflung. Doch durch das gewaltsam geöffnete Tor strömten immer noch mehr Feinde herein.

Kim ließ sich vor einem zum Angriff ansetzenden schwarzen Reiter blitzschnell zur Seite fallen. Sein Schwert glitt aus der Scheide, klirrte gegen die Klinge des anderen und hob den Mann mit einem gezielten Hieb aus dem Sattel. Aber schon tauchte ein zweiter Feind auf, ein dritter, vierter, und Kim mußte sich weiter zurückziehen. Er hielt nach seinem Pferd Ausschau, schlug und hackte sich einen Weg durch das Getümmel. Er fand es tatsächlich, schwang sich in den Sattel, stieß einen schwarzen Reiter, der sich an sein Bein zu klammern suchte, von sich und riß sein Pferd herum.

»Helden! Steppenreiter!« schrie er über den Kampflärm hinweg. »Zu mir! Sammelt euch!« Er deutete mit dem Schwert auf das geschlossene Tor des dritten Walles und sprengte los. Für einen Moment sah es so aus, als wollte er fliehen. Dann hatten seine Reiter das Tor erreicht und einen weiten Halbkreis darum gebildet.

»Das Tor auf!«

Die Torflügel schwangen auf, und Kim gab seinen Reitern mit einer Handbewegung Befehl, sich neu zu formieren. Der Halbkreis verwandelte sich in einen Keil, der krachend und berstend in die Reihen der schwarzen Reiter fuhr, formierte sich abermals neu, und zwar in einen schmalen, schnurgeraden Korridor, gebildet aus einer Doppelreihe von Reitern, der quer über den Hof bis zum dritten Wall führte. Die schwarzen Reiter verstärkten die Wucht ihres Angriffs, als sie bemerkten, welchen Plan Kim verfolgte. Aber die Doppelreihe hielt, und zwischen ihnen hindurch rettete sich Mann auf Mann hinter den Schutz des dritten, noch unbeschädigten Walles.

Kim focht in vorderster Reihe. Seine Rüstung war bald verbeult und zerrissen von den Hieben, die auf ihn herunterprasselten. Aber er kämpfte wie in einem Rausch, focht, Schmerzen und Angst vergessend und nur von dem Wunsch beseelt, so viele Männer Märchenmonds wie nur möglich in Sicherheit zu wissen. Und seine Begleiter kämpften, jeder für sich, mit dem gleichen Mut, die goldgepanzerten Helden neben den braunen, waffenlosen Gestalten der Steppenreiter und den grünen Lanzenträgern des Nordens. Die Übermacht war gewaltig, aber die Männer kämpften mit einer Tapferkeit, die ihresgleichen noch nicht gesehen hatte. Wo einer fiel, focht sein Nebenmann mit doppeltem Mut weiter und trieb die schwarzen Angreifer zurück. Endlich nahm der Strom der Flüchtenden ab, und Kim gab den Befehl zum Rückzug. Die Doppelreihe schloß sich, schrumpfte zusammen zu einem Kreis aus Schwertern und Lanzen und begann langsam auf den Wall zurückzuweichen.

Nur wenige erreichten den Schutz der Mauern. Als die Tore hinter ihnen zuschlugen und Kim sich erschöpft aus dem Sattel fallen ließ, mußte er erkennen, daß die meisten seiner Krieger das Rettungsunternehmen mit dem Leben bezahlt hatten. Am Ende seiner Kräfte, ließ er sich gegen die Flanke seines Pferdes sinken und schloß die Augen. Verzweiflung übermannte ihn. Als ihn eine sanfte Hand an der Schulter berührte und er in Themistokles' Gesicht sah, war er den Tränen nahe.

»Verloren«, sagte Kim. »Wir haben verloren, Themistokles. Es ist aus.«

Der Zauberer neigte das Haupt. »Es war nicht deine Schuld, Kim«, sagte er leise. Seine Stimme klang, als wollte er gleichzeitig um Verzeihung bitten. »Niemand konnte ahnen, wie abgrundtief böse Boraas wirklich ist und wie weit seine Macht reicht. Wenn jemanden eine Schuld trifft, so mich. Ich war es, der dich rief. Und vorher war ich es, der nicht genügend auf deine Schwester achtgab.«

»Und jetzt?« fragte Kim. »Werden wir uns halten können?«

Themistokles schüttelte traurig den Kopf. »Nein«, sagte er. »Wir sind zu wenige.«

Kim schaute zu den Zinnen hinauf. Nur eine Handvoll Krieger hatte sich auf der Mauer verschanzt und wartete mit gespannten Bögen auf den letzten, vernichtenden Angriff, und es war keiner unter ihnen, der nicht verwundet und am Rande der Erschöpfung war.

»Wir müssen aufgeben«, murmelte Kim. »Vielleicht schont Boraas ihr Leben, wenn wir uns freiwillig ergeben.«

»Ich habe es versucht, Kim«, antwortete Themistokles. »Lange bevor du kamst, habe ich Boten zu Boraas geschickt und ihm angeboten, über eine kampflose Übergabe Gorywynns zu verhandeln.«

»Und?«

»Boraas ließ mir ausrichten, er nähme nicht geschenkt, was ihm bereits gehöre. Er wollte diesen Kampf, Kim. Erwarte von Boraas keine Gnade.«

Von den Zinnen gellte ein vielstimmiger, entsetzter Aufschrei.

»Sie kommen! Der Schwarze Lord kommt!«

Themistokles wurde totenblaß. Die bloße Erwähnung des Schwarzen Lords schien ihn mehr zu erschrecken als der Anblick des ganzen schwarzen Heeres.

Ein dumpfer Schlag traf das Tor, und eine Wolke von Pfeilen sirrte über die Mauerkrone und fiel auf den Hof hinunter.

»Zurück!« befahl Themistokles. »Gebt die Mauern auf und versucht zu fliehen!«

Es hätte des Befehls nicht bedurft. Das Nahen des Schwarzen Lords schien den Mut der Verteidiger endgültig gebrochen zu haben. In wilder Panik verließen sie ihre Stellungen, rannten in den Hof hinunter oder begannen sich in den Türmen zu verschanzen. Auch Kim und Themistokles zogen sich, begleitet von der Handvoll am Leben gebliebener Reiter, zum Hauptgebäude des Märchenschlosses zurück. Wieder erzitterte das Tor unter fürchterlichen Rammstößen, und auf den Mauerzinnen erschienen die ersten schwarzen Rüstungen. Da und dort entspann sich ein kurzes, heftiges Handgemenge, aber der Widerstand Gorywynns war endgültig gebrochen, und die wenigen, die sich noch hielten, wurden von den Angreifern überrannt.

Das Tor brach, als Themistokles mit Kim und seiner Schar das obere Ende der Freitreppe erreicht hatte. Die großen Bronzeflügel neigten sich nach innen, kippten mit täuschend langsamer Bewegung und schlugen dann mit verheerender Wucht auf dem Innenhof auf. Die gesamte Festung schien zu erzittern, und in den gläsernen Fliesen des Bodens entstand ein Spinnennetz aus Sprüngen und Rissen. Eine Flut schwarzer Reiter wälzte sich in den Hof, angeführt von einer langen, gebeugten, in ein wallendes schwarzes Gewand gehüllten Gestalt und einem zweiten, viel kleineren schwarzen Krieger.