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Sie alle waren da. Themistokles, der Steppenkönig, Ados Vater, nun kein trauriger alter Mann mehr, sondern ein großer König in einem herrlichen Gewand und mit einer schimmernden Krone; Brobing und seine Familie, die Taks, Gorg und Kelhim - und viele, viele mehr. Alle, die an Kims Seite gewandert waren, mit ihm gefochten hatten und gefallen waren, waren an der langen Tafel versammelt, jeder gesund und unverletzt, und alle blickten ihm mit strahlendem Lächeln entgegen.

Priwinn stupste Kim aufmunternd in den Rücken, und Kim stolperte auf die Tafel zu.

»Setz dich, Kim«, sagte Themistokles freundlich. Er deutete auf den leeren Stuhl an der Stirnseite des Tisches, und Kim, der vor Neugierde fast platzte, gehorchte.

»Ihr lebt!« Die beiden Worte drückten alles aus, was Kim in diesem Moment empfand; die grenzenlose Erleichterung und unbezähmbare Freude, die totgeglaubten Kameraden wiederzusehen.

»Ja, Kim, wir leben. Gorywynn ist in alter Pracht wiedererstanden. Keinem Bewohner Märchenmonds wurde ein Leid zugefügt«, sagte Themistokles. »Und der König der Regenbogen existiert weiter in seiner Burg jenseits von Raum und Zeit.«

»Wir hielten es für besser, dich von Priwinn und Ado wecken zu lassen, um dir Zeit zu geben, den ersten Schreck zu überwinden«, sagte Gorg augenzwinkernd.

»Aber wie kann das sein?« fragte Kim schwach. »Ich habe gesehen, wie...«

Themistokles hob die Hand.

»Nichts von dem, was du erlebt hast, ist unwahr«, sagte er ruhig. »Alles ist so geschehen, wie es geschehen mußte, und doch ist es, als hätte es Boraas nie gegeben.«

»Aha«, machte Kim, in so verdutztem Ton, daß Themistokles sich das Lachen verbeißen mußte.

»Boraas selbst hat dir die Erklärung für das, was geschehen ist, gegeben«, fuhr der Zauberer lächelnd fort. »Erinnerst du dich, was er über das Miteinander von Gut und Böse im Menschen gesagt hat?«

Kim nickte. »Daß jeder Mensch sowohl das eine als auch das andere in sich trägt.«

»Ja. Aber noch etwas, was sogar noch wichtiger ist und dessen innerste Bedeutung Boraas offenbar selbst nicht erkannt hat. Auch mir blieb es im tiefsten Sinne verborgen; so lange, bis ich das Gesicht des Schwarzen Lords sah. Die Tatsache nämlich, daß das eine nicht ohne das andere existieren kann; daß kein Mensch entweder vollkommen gut oder vollkommen schlecht ist. Gut und Böse sind wie zwei untrennbar miteinander verbundene Teile eines Ganzen. Vernichte das eine, und du wirst unweigerlich das andere mit zerstören. Boraas hat in seiner Gier nach Macht und Gewalt vergessen, daß er letztlich nur ein Teil von mir ist, so, wie der Schwarze Lord ein Teil von dir ist. Hätte er sich damit begnügt, uns zu unterwerfen, hätte er den Sieg davontragen können. Aber er wollte uns zerstören, restlos und endgültig, und indem es ihm gelang, zerstörte er sich selbst.«

»Du meinst, er lebt nicht mehr?« fragte Kim vorsichtig.

Themistokles sah ihn durchdringend an. »Doch, Kim. Aber er und ich, wir wurden wieder eins, in dem Moment, als er mich vernichtete; so, wie der Schwarze Lord wieder zu einem Teil von dir wurde, als du unter den Pfeilen Boraas' starbst. Die beiden existieren weiter in uns, und begehe niemals den Fehler, sie zu vergessen.«

»Und Morgon?« fragte Kim. »Morgon und das Reich der Schatten?«

»Sie hörten auf zu existieren, als Gorywynn in Trümmer sank. Denn so, wie Morgons Heerscharen nichts als schwarze Spiegelbilder der Bewohner Märchenmonds waren, so war Burg Morgon nichts anderes als ein negatives Spiegelbild Gorywynns. Boraas' einziger Fehler. Er hat vergessen, daß ein Spiegelbild nur so lange Bestand haben kann, als das Original existiert. So vernichtete er sich schließlich selbst. Im Kampf mag das Gute dem Bösen unterlegen sein. Aber Boraas hat vergessen, daß Gewalt sich letztlich immer gegen sich selbst richtet.«

»Dann ist alles, wie es vorher war?« fragte Kim ungläubig.

»Ja. Das Reich der Schatten ist wieder ein Land, in dem die Menschen glücklich sein können. Morgon existiert nicht mehr, und das schwarze Heer ist wie ein böser Spuk verschwunden. Aber all dies war nötig. Nur durch die vollkommene Niederlage konnten wir am Ende siegen.«

Kim dachte lange über die Worte des Magiers nach. Das Böse kann nicht ohne das Gute existieren, dachte er. Aber das Gute auch nicht ohne das Böse. Es war ständig in ihnen, in Themistokles, Ado, in ihm - in allen. Der Schwarze Lord würde immerfort auf der Lauer liegen, bereit, beim kleinsten Anzeichen von Schwäche hervorzuspringen und die Herrschaft an sich zu reißen. Sie hatten gesiegt, ja, aber sie mußten wachsam bleiben, weil ein vollkommener Sieg der einen über die andere Seite ausgeschlossen war. Und wenn dies die Lehre war, die sie aus allem gezogen hatten, dann hatte sich die Anstrengung gelohnt.

»Und Rebekka?« fragte er.

Themistokles erhob sich und ging zur Tür. Als er sie öffnete, stand draußen ein kleines, blondzöpfiges Mädchen. Sein Gesicht wirkte nicht mehr blaß und eingefallen, sondern rosig und gesund, und in seinen Augen blitzte der Schalk.

»Rebekka!« rief Kim erfreut. Er sprang so heftig auf, daß der Stuhl polternd umfiel, lief auf seine Schwester zu und umarmte sie stürmisch. »Du bist frei!« sagte er. »Du bist gesund und frei!«

Themistokles stand lächelnd neben ihnen und wartete geduldig, bis sie ihre erste Wiedersehensfreude ausgetobt hatten. Dann räusperte er sich.

Kim besann sich. »Jetzt ist wirklich alles gut«, sagte er.

»Nur eines bleibt uns noch zu tun«, sagte Themistokles ernst.

»Was?«

Themistokles ergriff Kims und Rebekkas Hand. Die versammelten Helden an der Tafel erhoben sich, und der Zauberer schritt an ihnen vorbei auf den Thron Gorywynns zu.

»Er gehört euch«, sagte er einfach. »Ihr zwei habt Gorywynn gerettet, und so gebührt euch auch der Ehrenplatz an der Spitze Märchenmonds.«

Kim schüttelte erschrocken den Kopf.

»Nein«, sagte er. »Ich will ihn nicht.«

Themistokles lächelte. »Aber er gebührt euch. Ohne euch hätte das Böse gesiegt, und Jahrhunderte der Tyrannei wären über Märchenmond hereingebrochen.«

Aber Kim blieb standhaft. »Wir haben nur getan, was jeder andere auch getan hätte. Er gebührt uns nicht.«

»Wie du willst, Kim. Aber der Thron steht bereit und wartet. Wann immer du willst, kannst du ihn besteigen, und ganz Märchenmond wird dir zu Diensten sein.«

Die Zeit verging. Die Tage wurden kürzer, die Nächte kälter, und eines Morgens lag der erste Schnee auf den gläsernen Zinnen der Märchenburg. Kim und Rebekka waren glücklich und zufrieden, und wenn sie auch niemals Anspruch auf den Thron erhoben hatten, so wurden sie doch von jedem Bewohner Märchenmonds ehrfurchtsvoll und wie Könige behandelt, und es gab keinen unter ihnen, der nicht ihr Freund gewesen wäre. Sie bereisten das ganze Land, besuchten die Taks und den Hof der Brobings, verbrachten Wochen im Reich des Tümpelkönigs und waren oft und gern gesehene Gäste in der Steppenfestung Caivallon, die ebenfalls in alter Schönheit wiedererstanden war. Und nach und nach vergaßen sie das Schreckliche, das sie erlebt hatten, und als im Frühjahr der Schnee schmolz, schmolzen mit ihm auch die Erinnerungen an Boraas und Morgon dahin. Als das Frühjahr kam, brachen sie zu einer großen Reise durch Märchenmond auf. Rangarigs goldene Flügel trugen sie überallhin. Sie sahen Wunder über Wunder, Dinge, die keines Menschen Auge je erblickt hatte oder je wieder erblicken würde.

Eines Tages aber, lange nachdem sie von ihrer Reise zurückgekehrt waren, ergab es sich, daß Kim und Rebekka allein im Thronsaal waren. Und plötzlich, ohne ein Wort der Vereinbarung, schritten beide auf den hölzernen Thron Märchenmonds zu. Die steinernen Säulen zu beiden Seiten des Sessels begannen zu glühen, und als die Geschwister nebeneinander auf der breiten, harten Sitzfläche Platz nahmen, überstrahlte ein grelles Licht den Sonnenschein vor den Fenstern. Eine große, warme Müdigkeit umfing sie, und Arm in Arm schliefen sie ein.