»Kim! Wach auf!«
Jemand rüttelte ihn an der Schulter, sanft, aber ausdauernd. Und wieder sagte eine vertraute Stimme! »Kim, wach auf! Wir müssen weg! Schnell!«
Kim blinzelte, öffnete dann vollends die Augen und schaute verwundert ins Gesicht seiner Mutter. Das Zimmer war dunkel, nur vom Flur her fiel ein schmaler Streifen gelben Lichts herein. Die Zeiger des Weckers neben seinem Bett standen auf halb fünf. Kim fuhr sich müde mit den Händen über das Gesicht, setzte sich auf und murmelte! »Was ist los? Wo ist Themistokles, und wie komme ich hierher?«
»Du hast geträumt, Junge«, sagte Mutter beruhigend. »Komm jetzt. Zieh dich an. Wir müssen in die Klinik!«
»Klinik?« fragte Kim verwirrt. Er schlug die Decke zurück und schwang schwerfällig die Beine aus dem Bett. Er hörte Vater unten in der Diele telefonieren. Als er aufstand und zögernd nach seinen Kleidern griff, verließ Mutter mit schnellen Schritten das Zimmer. »Beeil dich«, wiederholte sie. »Wir müssen gleich weg. Ich erkläre dir alles unterwegs.«
Kim zog sich schlaftrunken, mit umständlichen Bewegungen an. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken wie die vielen Teile eines Puzzlespiels durcheinander, und es fiel ihm schwer, sich auf eine so einfache Tätigkeit wie das Zuknöpfen seines Hemdes zu konzentrieren.
Was war geschehen? Soeben noch hatte er auf dem Thron Märchenmonds gesessen. Und jetzt fand er sich hier, in seinem dunklen, kühlen Zimmer, und seine Eltern waren in heller Aufregung und drängten mitten in der Nacht zum Aufbruch.
Er nahm seine Strickjacke vom Stuhl, ging zur Tür und knipste das Licht an. Sein Zimmer war unverändert. Die angefangenen Hausaufgaben lagen da, als wäre wirklich nur eine einzige Nacht vergangen, und auch das Buch, in dem er gelesen hatte, lag aufgeschlagen am Boden.
Kim löschte kopfschüttelnd das Licht und ging die Treppe ins Erdgeschoß hinunter. Vater telefonierte noch immer, aber er hatte bereits seinen Parka übergestreift. Seine Haare standen wirr nach allen Seiten ab. Auch zum Rasieren hatte es offenbar nicht mehr gereicht, so daß er ein wenig wie ein stoppelbärtiger Bruder des alten Tak aussah.
Vater hängte ein, als er Kim auf der Treppe sah. Mutter kam aus der Küche, strich sich noch einmal glättend über das Haar und ging zur Tür. »Die Klinik hat angerufen«, sagte sie. »Wir müssen zu deiner Schwester. Schnell.«
»Wieso in die Klinik? Rebekka ist doch gesund!«
Vater sah Kim verständnislos an. Aber Mutters müdes Gesicht strahlte mit einem Mal auf. »Ja, Kim«, sagte sie glücklich. »Deine Schwester ist gesund. Es ist wie ein Wunder.«
»Ein Wunder?« empörte sich Kim. »Es war schwer genug.«
Aber weder Vater noch Mutter schenkten seinen Worten Beachtung. Sie verließen das Haus, und Kim und Mutter warteten frierend an der Bordsteinkante, bis Vater den Wagen aus der Garage gefahren hatte.
Die Straßen wirkten wie leergefegt, als sie durch die schlafende Stadt in Richtung Autobahn fuhren. Ein einziger Wagen kam ihnen entgegen, und als sie wenige Minuten später über die Südbrücke brausten, schien selbst der Fluß schlafend unter ihnen zu liegen. Kim überlegte, ob er seinen Eltern von seinen und Rebekkas Abenteuern in Märchenmond erzählen sollte, aber dann sagte er sich, daß sie ihm jetzt bestimmt nicht zuhören würden. Außerdem, so vermutete er, würden sie ihm ohnehin nicht glauben. Wenigstens im Moment nicht.
Vater bog mit kreischenden Reifen in die Mohrenstraße ein. Die Klinik lag groß und dunkel vor ihnen. Hinter einigen Fenstern brannte trotz der frühen Stunde noch - oder schon wieder - Licht. Vater fuhr direkt in die Einfahrt, stieg aus und verhandelte eine Zeitlang mit dem griesgrämig dreinblickenden Nachtwächter hinter der Glasscheibe. Schließlich nickte der Mann, und Vater kam zum Wagen zurück und ließ den Motor an. Die rotweißlackierte Schranke hob sich mit leisem Summen, und sie fuhren den Weg zur chirurgischen Klinik entlang, den sie am vergangenen Tag gelaufen waren. Sie mußten eine Weile vor der verschlossenen Tür warten, ehe endlich das Licht anging und eine Nachtschwester öffnete.
»Herr und Frau Larssen?« fragte sie.
Vater nickte. »Ja. Wir... ich...«
Die Schwester lächelte. »Doktor Schreiber hat mir gesagt, daß Sie kommen«, erklärte sie mit gedämpfter Stimme. »Folgen Sie mir bitte. Aber leise. Unsere anderen Patienten schlafen noch.«
Sie folgten der Schwester über den breiten, nur notdürftig erleuchteten Flur. Die Bänke, auf denen gestern noch Leute gesessen hatten, wirkten jetzt verwaist und seltsam hart und unbequem. Als sie auf die geschlossene Glastür der Kinderabteilung zugingen, hatte Kim für einen winzigen Moment das Gefühl, nicht ihre eigenen Spiegelbilder, sondern die dreier hochgewachsener, schlanker Gorywynner zu sehen.
Die Schwester öffnete die Tür. Sie legte den Zeigefinger auf die Lippen und bedeutete ihnen weiterzugehen.
Dr. Schreiber erwartete sie am Ende des langen, hellgelb gestrichenen Ganges. Er lächelte erfreut, und obwohl er übernächtigt und müde aussah und unter seinen Augen dunkle Ringe lagen, war die Erleichterung auf seinem Gesicht nicht zu übersehen. Er schüttelte erst Vater, dann Mutter wortlos die Hand, streichelte Kim flüchtig über den Kopf und öffnete dann die Tür zu Rebekkas Zimmer.
Mutter stieß einen halblauten Schrei aus, stürzte zum Bett und riß Rebekka in stürmischer Umarmung an sich. Plötzlich begann sie zu weinen, laut und hemmungslos. Doch diesmal waren es Tränen der Freude, denn ihre Tochter saß gerade aufgerichtet im Bett, wach, wohl noch ein wenig blaß und verstört, aber bei vollem Bewußtsein.
»Das ist...« Vater schluckte und setzte nochmals an. Aber die Stimme versagte ihm wieder. Auch in seinen Augen glänzten Tränen.
»Es ist wie ein Wunder«, sagte Dr. Schreiber. »Ich als Mediziner dürfte das Wort eigentlich nicht in den Mund nehmen, aber ich tue es trotzdem. Als ich vor einer Stunde von der Nachtschwester gerufen wurde, da...« Plötzlich versagte auch ihm, von innerer Bewegung überwältigt, die Stimme.
Vater reichte ihm stumm die Hand, drückte sie und umarmte dann den kleingewachsenen Arzt wie einen lieben Verwandten.
Auch Kim trat langsam an das große, weiße Bett. Er blickte zuerst auf die chromblitzenden Apparate an der Wand, die jetzt aufgehört hatten zu blinken und zu summen, und dann ins Gesicht seiner Schwester.
Weder Kim noch Rebekka sagten ein Wort über das gemeinsam Erlebte - weder jetzt noch später. Aber als Kim zögernd die Hand ausstreckte und den zerrupften, einäugigen, einohrigen Stoffteddy von der Bettdecke nahm und als er dann dem Blick seiner Schwester begegnete, da wußte er, daß er nicht geträumt hatte. Märchenmond und Gorywynn existierten, irgendwo.
Mochten die Erwachsenen ruhig an ein medizinisches Wunder glauben. Rebekka und er wußten es besser. Aber das würde ihr Geheimnis bleiben. Vielleicht, dachte Kim, vielleicht würden sie irgendwann noch einmal nach Märchenmond reisen.
Er drückte Kelhim an sich, setzte ihn dann behutsam auf die Bettdecke zurück und trat ans Fenster, um auf die erwachende Stadt hinunterzublicken.