»Und jetzt?« fragte Jarrn.
Etwas am Klang seiner Stimme ließ Kim aufblicken. Der Zwerg stand aufrecht und grinsend vor ihm, und er wirkte mit einem Male recht quicklebendig und gar nicht schwach. Sein Mantel hing in Fetzen, aber damit hatte er sich wenig verändert zu früher, und seine Haut war zerschunden und zerkratzt. Aber das hämische Grinsen auf seinem Gesicht war beinahe fröhlich, und seine dunklen Augen musterten Kim mit boshafter Schadenfreude.
»Du ... kannst laufen?« flüsterte Kim matt.
»Natürlich kann ich laufen«, antwortete Jarrn. Er hüpfte auf der Stelle und hob beide Arme über den Kopf, um es zu beweisen. »Mir fehlt nichts. Ich fühl' mich prima. Um mich umzubringen, muß schon mehr kommen als so eine größenwahnsinnige Nacktschnecke.«
»Und dann läßt du dich das ganze Stück tragen?« murmelte Kim. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, zornig zu sein. »Warum hast du nicht gesagt, daß du laufen kannst?«
»Du hast mich nicht danach gefragt, oder?« gab Jarrn schnippisch zurück. »Ich dachte, es macht dir Spaß.« Kim schluckte die ärgerliche Antwort herunter, die ihm auf der Zunge lag. Es war auch egal, Jarrns kurze Beine wären ohnehin zu langsam gewesen.
»Ich brauche deine Hilfe, Jarrn.«
»Meine Hilfe?« Jarrn kicherte. »Ich habe es dir ja schon gesagt - du spinnst.«
»Ich meine es ernst, Jarrn«, fuhr Kim fort. »Themistokles' Leben steht auf dem Spiel.«
Der Zwerg blinzelte. »Sein Leben?«
»Die Flußleute haben ihn in ihrer Gewalt.« Kim deutete mit einer Kopibewegung nach oben. »Sie wissen, daß sie nicht mehr entkommen können. Sie sind verzweifelt. Und ich glaube, sie werden etwas Verzweifeltes tun, wenn Priwinn nicht nachgibt.«
»Das wird er nicht«, sagte Jarrn plötzlich sehr ernst.
»Das fürchte ich auch«, antwortete Kim müde. »Er hat sich so verändert, Jarrn. Er ist hart geworden. Oft erkenne ich ihn kaum wieder.«
»Und was kann ich dabei tun?« erkundigte sich Jarrn. »Die Flußleute gehorchen mir sowenig wie dir. Sie sind nicht unsere Freunde - hast du das schon vergessen?«
»Nein«, erwiderte Kim. »Aber sie haben zwei Eisenmänner bei sich. Wie kommt das?«
»Eisenmänner?« Jarrns linke Augenbraue rutschte überrascht fast bis auf die Mitte seiner Stirnglatze hinauf. »Sie haben Eisenmänner?«
Der Zwerg wirkte erschrocken und ziemlich verwirrt, auch ein bißchen besorgt, fand Kim. Und erst jetzt, als er das Erstaunen auf Jarrns Gesicht sah, wurde ihm klar, daß er im ganzen Heer der Flußleute nicht einen einzigen Eisenmann gesehen hatte. Dabei hätte einer dieser stählernen Kolosse hundert von Priwinns Reitern aufgewogen.
»Bitte hilf uns, Jarrn«, bat Kim. »Ich verspreche dir die Freiheit. Ich lasse dich gehen, sobald Themistokles in Sicherheit ist. Darauf hast du mein Wort.«
»Ich schätze, dein Wort ist im Moment nicht viel wert«, meinte Jarrn schnippisch. »Warum sollte ich dir helfen? Weißt du, was ,du angerichtet hast? Weißt du, wieviel Schaden du uns zugefügt hast? Mehr als dieser verrückte Grasfresser und all seine Freunde zusammen.«
Kims Augen füllten sich beinahe mit Tränen vor Verzweiflung. »Bitte, Jarrn«, flehte er. »Du ... du kannst verlangen, was du willst. Meinetwegen begleite ich dich wieder als dein Gefangener, und ich gebe dir mein Ehrenwort, daß ich nicht wieder zu fliehen versuche. Aber hilf uns! Rette Themistokles. Von allen hier ist er am wenigsten euer Feind.«
Lange, lange blickte Jarrn ihn auf eine Art an, die Kim schaudern ließ. Er durchschaute diesen Zwerg einfach nicht. Meist benahm er sich samt seinen Untertanen gehässig und kindisch, oder er schien der Inbegriff der Bosheit zu sein - und dann wieder entdeckte Kim auf Jarrns Zügen etwas völlig anderes: Weisheit, wenn auch von einer Art, die er vielleicht niemals begreifen würde.
»Also gut«, stimmte Jarrn schließlich zu. »Aber ich tu' es nicht für dich und schon gar nicht für diesen rasenden Grasfresser dort oben. Ich tu' es nur für Themistokles, und danach bin ich frei und gehe meiner Wege.«
»Darauf hast du mein Wort«, bestätigte Kim. Er stand auf und wollte weitergehen, aber Jarrn schüttelte den Kopf und rief ihn mit einer Handbewegung zurück.
»Warte einen Moment hier«, sagte er. »Ich muß ... auf einem anderen Weg gehen. Wenn sie mich sehen, werden sie sofort begreifen, was los ist, und den Zauberer töten. Ich kenne diese Flußleute. Sie sind ein gemeines, niederträchtiges Volk. Es ist ihre Art, das zu zerstören, was sie nicht haben können.«
Kim nickte müde. »Ich warte hier«, sagte er. »Ich werde langsam bis dreißig zählen - reicht das?«
»Besser bis fünfzig«, sagte Jarrn nach kurzem Überlegen. »Falls du so weit zählen kannst.«
»Ich kann es ja mal versuchen.« Kim rang sich ein müdes Lächeln ab - und riß erstaunt die Augen auf, als Jarrn plötzlich verschwunden war. Es war, als hätte er sich einfach in Luft aufgelöst. Erst nach einigen Augenblicken begriff Kim, daß sich der Zwerg so schnell bewegt hatte, daß sein Auge ihm einfach nicht mehr hatte folgen können. Er bot wirklich ständig neue Überraschungen.
Kim schüttelte verblüfft den Kopf, starrte die Stelle an, an der Jarrn eben noch gestanden hatte. Dann begann er zitternd vor Ungeduld, aber mit erzwungener Ruhe bis fünfzig zu zählen. Als er fertig war, gab er noch zwei, drei Atemzüge hinzu, straffte die Schultern und ging so ruhig er konnte die Treppe hinauf.
Seit er zurückgelaufen war, um den Zwerg zu holen, hatte sich das Bild nicht im mindesten geändert. Die beiden Flußleute und der Eisenmann standen noch immer vor der Tür, und Priwinn - der inzwischen von acht oder zehn seiner Steppenreiter umgeben war - stand auf der anderen Seite des Ganges und funkelte sie haßerfüllt an. Als er Kims Schritte hörte, wandte er den Blick und brach mitten im Wort ab. Er runzelte fragend die Stirn, und auf seinem Gesicht erschien ein verärgerter Ausdruck, als Kim nicht darauf reagierte. Dann wandte er sich mit einem Ruck wieder an die beiden Flußmänner und hob fordernd die Hand. »Also - entscheidet euch. Freies Geleit für euch und für die, die sich noch innerhalb der Mauern befinden: wenn ihr all eure Waffen abgebt und uns die Eisenmänner ausliefert. Wir verlangen die Zerstörung sämtlicher Maschinen, die die Zwerge für euch gebaut haben.«
»Niemals«, antwortete der Flußmann. »Mit Verlaub, König Priwinn - Ihr habt nur die Schlacht gewonnen, nicht den Krieg.«
»Du verlangst, daß wir euch gehen lassen und eurem Wort vertrauen, daß ihr nicht zurückkommt und versucht, die Niederlage wettzumachen?« Priwinn lachte hart. »Du bist verrückt! Gebt eure Waffen ab und liefert uns diese Kreaturen aus, und ihr dürft gehen. Sonst nicht.«
»Dann stirbt der Zauberer«, antwortete der Flußmann ernst.
»Vielleicht«, antwortete Priwinn sehr ernst. »Aber ich werde nicht das Schicksal meines ganzen Volkes aufs Spiel setzen, um ein Leben zu retten. Und wäre es mein eigenes, würde ich nicht anders entscheiden.«
Kim hörte diesen Worten mit kaltem Schrecken zu. Das war nicht mehr der fröhliche, stets zu Scherzen aufgelegte Junge, den er kennengelernt hatte. Priwinn war zum Mann geworden. Aber er war ein harter, ein allzu harter Mann. »Eure Frist läuft ab«, fuhr Priwinn fort, als die Flußmänner nicht antworteten. »Entscheidet euch, oder -«
»Oder?« fragte der Flußmann lauernd.
Priwinn zog langsam das Schwert aus dem Gürtel, und alle seine Begleiter taten es ihm gleich, so daß sich die beiden Flußmänner plötzlich einem Dutzend gezückter Klingen gegenübersahen. Im gleichen Moment glaubte Kim eine schattenhafte Bewegung in dem Raum hinter der Tür wahrzunehmen. Er beherrschte sich mit aller Macht, um nicht erschrocken zusammenzufahren oder zu auffällig dorthin zu blicken, aber er war sicher, sie gesehen zu haben. Einen Augenblick später sah er sie noch einmal. Und dann erblickte er Jarrn, der lautlos wie ein Schatten hinter Themistokles' Stuhl hervorgetreten war und den Eisenmann anstarrte, der den Alten bewachte.