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Plötzlich war es Kim, als riefe ihn etwas.

Im ersten Moment dachte er, es wäre Jarrn, und er drehte sich zu ihm um, aber der Zwergenkönig stand reglos und mit dem gleichen sonderbar wissenden Ausdruck im Gesicht da wie bisher, und da begriff Kim, daß er den Ruf nicht wirklich gehört hatte. Vielmehr war es, als hätte etwas seine Seele berührt, etwas Kaltes und Fremdes, und gleichzeitig doch Vertrautes und Beschützendes.

Sein Blick löste sich von Jarrns Gestalt und glitt über die des schlafenden Zauberers, aber Themistokles' Augen waren geschlossen und blieben es auch weiter; es war nicht die Magie des Zauberers, die er gespürt hatte.

Langsam drehte er sich weiter. Sein Blick blieb an dem kleinen Tischchen hängen, auf dem Priwinn Schwert, Helm und Rüstung zurückgelassen hatte, und im selben Moment, in dem er die Waffen sah, da wußte er es. Es war die Stimme dieser Rüstung, die er gehört hatte. Eine Stimme aus der Vergangenheit, seiner eigenen Vergangenheit, die von großen Heldentaten und mutigen Kämpfen erzählte; die ihm zuflüsterte, daß ihr Zauber noch immer da war, so stark und unüberwindlich wie damals, ja, in seiner Hand sogar hundertmal stärker als in der Priwinns - denn diese Rüstung hatte einst Kim gehört, und nicht dem Steppenreiter. Kim schauderte. Mit einem kleinen Teil seines Verstandes begriff er noch, daß es die Verlockung der Macht war, die er spürte. Das Wissen um die Unüberwindlichkeit dieser Rüstung und um die tödliche Schärfe der schwarzen Klinge, die schon einmal mitgeholfen hatte, dieses Land vor einer entsetzlichen Gefahr zu erretten. Es gab nichts, was dieser Waffe widerstand, und nichts, was diesen Panzer durchdringen konnte. Legte er ihn an, so war er unbezwingbar.

Er wollte es nicht, er versuchte, sich mit aller Kraft dagegen zu wehren, aber es war, als gehörten seine Hände gar nicht mehr ihm. Langsam und zitternd, und doch zielstrebig, ergriff Kim den Brustharnisch, die Bein- und Armkleider aus schwarzem Eisen und schließlich die wuchtigen Kettenhandschuhe und streifte eines nach dem anderen über. Die Rüstung mußte gut einen Zentner wiegen, wenn nicht mehr. Aber statt ihr Gewicht zu spüren, geschah das genaue Gegenteil - mit jedem Stück, das Kim anlegte, schienen seine Kräfte zu wachsen, mit jeder Platte aus schwarzem Eisen, die er an seinem Körper befestigte, wuchs sein Wissen, unverwundbar und unüberwindlich zu sein, und als er schließlich den Helm überstülpte und als letztes nach dem schartigen schwarzen Schwert griff, da durchströmte ihn eine Woge von prickelnder, unwiderstehlicher Energie. Ein Teil von Kim wußte immer noch, daß das, was er jetzt tat, falsch war: Es war nicht die Kraft des Guten. Nicht wirklich. Es war die Verlockung der Macht, jene böse Anziehung, die die Gewalt ausübt, die Lust am Zerstören und Vernichten. Doch dieser Teil seines Verstandes, der all dies begriff, war längst nicht mehr stark genug.

Kim hatte alles versucht. Er war von Niederlage zu Niederlage geeilt, hatte Rätsel um Rätsel gelöst, hatte sich vielen Gefahren gestellt, um das furchtbare Geheimnis, das mit dem Schicksal Märchenmonds und seiner Bewohner verknüpft war, zu lösen. Und er war weiter davon entfernt denn je. Vielleicht war es so, daß er dabei war, aufzugeben, so bitter es Kim auch erschien. Ob es das war, was Themistokles mit seinen letzten, geflüsterten Worten gemeint hatte? Daß ein Leben als Preis manchmal nicht reichte, um etwas zu erringen ...

Es war nicht die Angst - Kim hätte sein Leben gern gegeben, um Märchenmond zu retten. Doch das galt auch für jeden einzelnen all dieser Männer, die Priwinn um sich geschart hatte. Und nur zu viele waren bereits dafür gestorben. Es war wohl nicht der Tod, den dieses grausame Schicksal von ihm verlangte, sondern vielleicht ging es vielmehr darum, etwas Falsches zu tun. Etwas, von dem Kim wußte, daß es nur weiteres Unheil und Böses hervorbringen konnte. Und doch hatte er keine Wahl mehr. Nach allem, was er und Priwinn versucht hatten, war die Gewalt die einzige Lösung, die ihnen noch blieb.

»Glaubst du das wirklich?«

Kim drehte sich zu Jarrn herum, noch immer im Traum, und er antwortete darauf: »Ich weiß es nicht. Ich... ich weiß einfach nicht mehr weiter, Jarrn.« Er wunderte sich kein bißchen, daß der Zwergenkönig seine Gedanken gelesen hatte.

»Du bist ein Narr«, sagte Jarrn ernst. In seiner Stimme war nichts von der gewohnten Gehässigkeit, vielmehr dieser Ausdruck von uraltem Wissen, den Kim schon früher an ihm entdeckt hatte. Und seine Worte machten ihn schaudern. Kim wartete darauf, daß der Zwergenkönig fortfuhr, aber Jarrn blickte ihn nur voller Trauer an, dann drehte er sich herum und ging mit langsamen Schritten auf das Bett zu, auf dem Peer lag.

Kim sah erstaunt und voll Neugier zu, wie Jarrns Fingerspitzen rasch über Peers Stirn und Schläfen strichen und sich der Junge unruhig im Schlaf bewegte. Dann trat der Zwerg zurück, sah noch einmal traurig zu Kim auf und wandte sich schließlich zur Tür. Er schritt einfach durch sie hindurch, ohne sie zu öffnen, und auch das war in Ordnung - in einem Traum.

Seltsam, daß Kim so dachte. Er war sich vollkommen bewußt, daß er träumte. Normalerweise wußte man das nicht. Und plötzlich überkam ihn der Gedanke, daß er sich vielleicht nur einredete zu träumen, ganz einfach, weil sonst all dies nicht zu ertragen gewesen wäre.

Doch dann geschah etwas, das ihn endgültig davon überzeugte, in einem Traum zu sein: Ein trompetender Schrei durchschnitt die Nacht, und als Kim zum Fenster trat und neugierig hinausblickte, da sah er den gewaltigen Schatten des Tatzelwurms, der mit weit ausgebreiteten Flügeln langsame Kreise über den See zog. Aber er war nicht allein. Ein zweiter, kleinerer Schatten - wenn auch noch immer riesig genug - schwebte neben ihm: ein Drache von hellgolden schimmernder Farbe. Wut und Zorn lagen im Schrei der beiden, doch war nichts Aggressives an ihrem Dahingleiten. Es konnte nicht wahr sein, daß diese Erzfeinde sich nicht ohne zu zögern aufeinander stürzten, um sich gegenseitig zu vernichten; Rangarig und der Tatzelwurm waren Feinde seit Anbeginn der Schöpfung.

Da vermeinte Kim zu verstehen, was ihm der Traum mit diesem Bild sagen wolle: Wenn selbst Rangarig und der Tatzelwurm ihre uralte Feindschaft überwunden hatten, um gemeinsam gegen die Feinde Märchenmonds zu kämpfen, wie konnte er dann noch zögern?

Eine Weile sah Kim dem kreisenden Flug der beiden zu, bis sie allmählich an Höhe verloren und nebeneinander auf dem Feld vor dem Stadttor niedersanken und so Kims Blicken entschwanden. Dann ließ ihn ein Geräusch vom Bett her aufhorchen.

Es war nicht Themistokles, von dem Kim insgeheim gehofft hatte, daß er es sei, der ihm diesen Traum sandte. Der Alte lag wie zuvor reglos schlafend auf dem Bett. Peer aber hatte sich aufgesetzt und blickte mit verwirrtem Gesicht um sich. Für einen Moment traf der Blick seiner Augen genau auf Kim, aber er blieb leer, es war kein Erkennen darin, ja es schien, daß der Junge ihn überhaupt nicht wahrnahm. Und so leer wie seine Augen war sein ganzes Gesicht. Ganz langsam, aber mit zielstrebigen Bewegungen, stand Peer vom Bett auf, immer noch mit dem Antlitz eines Schlafenden. Wie zuvor Jarrn blieb auch er einen Moment an Kims Lager stehen, dann drehte er sich herum und ging mit gemessenen Schritten auf die Tür zu. Und wie der Zwerg schritt er einfach hindurch, als wäre die Tür aus massivem Holz nichts als eine Illusion. Nach einem fast unmerklichen Zögern schob Kim das Schwert, das er noch immer in der rechten Hand hielt, in die lederne Scheide an seinem Gürtel und folgte dem Freund. Wie Peer und der Zwerg vor ihm, machte sich Kim nicht einmal die Mühe, die Hand nach dem Türgriff auszustrecken...

Traum oder nicht - Kim prallte so unsanft gegen die Tür, daß er taumelte und um ein Haar zu Boden gestürzt wäre. Verblüfft hob er die Hand an seine geprellte Stirn und betastete die mächtige Beule, die sich fast augenblicklich darauf zu bilden begann. Dann starrte er die geschlossene Tür an und schüttelte verwundert den Kopf. Was für ein verrückter Traum! Offensichtlich konnten sich hier alle so benehmen, wie es ihnen gerade einfiel - nur er nicht.