Als Kim sich danach aufrichtete, herrschte rings um ihn vollkommene Stille. Priwinns aufgeregte Rufe waren verstummt, und auch das Geräusch der Schritte war weit hinter Kim zurückgeblieben. Er mußte schneller und vor allem weiter gelaufen sein, als er gemerkt hatte. Erst jetzt fühlte er, wie rasch und hart sein Herz schlug, wie rasend seine Lungen arbeiteten und wie sehr seine Knie zitterten. Und mit einem Male fiel ihm auch auf, auf welch unheimliche Weise sich seine Umgebung verändert hatte. Die Wände, die Decke und die Treppenstufen unter seinen Füßen waren noch immer aus Glas, aber nicht mehr in den eingefangenen Farben des Regenbogens. Kim umgab jetzt ein milchiger, trüber Schleier, als bewege er sich durch eine Welt aus erstarrtem Nebel. Ein muffiger Geruch hing in der Luft, und die Staubschicht vor ihm, beginnend mit der ersten Stufe, auf die er den Fuß noch nicht gesetzt hatte, war nahezu knöcheltief und gänzlich unberührt. Kim ahnte, daß er sich tief, tief in der Erde befinden mußte, fast war es, als könne er das ungeheure Gewicht des Felsens, auf dem sich die Burg erhob, über seinem Kopf spüren.
Allmählich schlich die Angst in ihm hoch. Bisher war er viel zu aufgeregt gewesen, um auch nur darüber nachzudenken, was er tat. Aber mit einem Male fiel ihm ein, wie gewaltig die Kellergewölbe von Gorywynn waren, so gewaltig, daß sich eine ganze Armee darin verbergen konnte - und ganz sicher groß genug, um sich darin hoffnungslos zu verirren und nie wieder den Weg hinaus zu finden.
Wo war Peer?
Kim verlor mit einem Male die Gewißheit, auf dem richtigen Weg zu sein. Vielleicht war der Junge abgebogen, oder Kim hatte eine Tür, eine Abzweigung übersehen und war längst auf dem besten Wege, immer tiefer und tiefer in dieses Labyrinth aus gläsernen Treppen und Stollen vorzudringen.
Trotzdem setzte sich Kim wieder in Bewegung, wenn auch jetzt sehr viel langsamer als bisher.
Die Treppe schien kein Ende zu nehmen. Stufe um Stufe um Stufe stieg Kim in die gläsernen Eingeweide der magischen Stadt hinab, und mit jedem Schritt, den er tat, veränderte sich seine Umgebung ein winziges bißchen mehr, wurde der Traum aus Glas und farbigem Licht mehr und mehr zum Alptraum aus erstarrtem Nebel und grauem Schimmer. Sein Herz klopfte heftig, nicht vor Anstrengung, sondern vor Furcht. Als er endlich das Ende der Treppe erreichte, da hatte er es längst aufgegeben zu überlegen, wie tief unter der Stadt er sich befinden mochte.
Vor ihm lag ein weiter, gläserner Saal, der von dem gleichen, unheimlichen Grau erfüllt war wie die Höhlenwelt der Zwerge.
Bröckchen und Sheera waren dicht hinter dem Eingang stehengeblieben und zur Reglosigkeit erstarrt, Kim konnte die Furcht direkt fühlen, mit der sie in die riesige, vollkommen leere Glashöhle hineinblickten.
Doch nein - sie war nicht vollkommen leer. In der Mitte des Saales, so weit entfernt, daß Kim ihn kaum sah, sondern in der bleiernen Dämmerung mehr ahnte, erhob sich etwas wie ein riesiger steinerner Würfel von nachtschwarzer Farbe. Sein Anblick hätte Kim an einen Altar erinnert, wäre er nicht viel zu groß dafür gewesen, größer als ein Haus, und so schwer, daß er den gläsernen Boden unter sich zermalmt hatte und ein Stück weit hineingesunken war. Davor stand, winzig klein im Verhältnis zu dem Quader, eine schlanke Gestalt mit schwarzem Haar.
»Peer!« schrie Kim. Die Wände der kahlen Halle warfen seine Worte als verzerrtes, meckerndes Echo zurück. Peer reagierte nicht. Er drehte sich langsam zur Seite und begann, zur linken Seite des Quaders zu gehen, wo eine schmale Treppe zu seiner Oberseite hinaufführte.
Kim rief ihn noch einmal, wartete aber diesmal nicht ab, ob er ihn verstand, sondern rannte los, so schnell er konnte. Peer hatte inzwischen die flache Oberseite des gigantischen Felswürfels beinahe erreicht, als Kim keuchend am Fuße der Treppe ankam, und kurz stehenblieb, um Atem zu schöpfen. Und als Kim das nächste Mal nach oben schaute, war die Treppe leer.
Kim schrie ein drittes Mal und jetzt schon verzweifelt nach Peer. Dann rannte er die steinernen Stufen hinauf, ohne darüber nachzudenken, was ihn dort oben erwarten mochte. Vielleicht etwas Entsetzliches, vielleicht so schlimm, daß es besser war, es sich gar nicht auszumalen - aber als Kim mit einem letzten gewaltigen Satz auf die Fläche oben hinaufsprang, da stand der dunkelhaarige Junge hoch aufgerichtet und reglos vor ihm, zehn oder zwölf Schritte entfernt, genau in der Mitte des riesigen Blockes. Und da wußte Kim nun mit Sicherheit, daß es ein Altar war. Peer hatte sich herumgedreht und blickte Kim mit sonderbar traurigen Augen an. Erschrocken blieb Kim mitten in der Bewegung stehen, aber Peer sah ihn nur weiter an. Dann lächelte er ebenso traurig und hob die rechte Hand, als wollte er zum Abschied winken. Ja, es war ein Abschied. Denn Peer hatte kaum die Hand gesenkt, da geschah etwas Furchtbares. Schnell und sonderbar undramatisch. Doch Kim stockte der Atem vor Entsetzen. Es war, als balle sich etwas von dem grauen Nebellicht, das hier überall herrschte, um Peer zusammen, bis er nur noch wie durch einen Vorhang aus wattigem Dunst erkennbar war. Seine Gestalt schien vor Kims Augen zu verschwimmen, wurde unscharf und flach wie ein Schatten, dessen Ränder im Licht zerfaserten, bis er nicht mehr zu sehen war.
Und als sich das graue Licht nach einigen Augenblicken wieder verflüchtigte, da stand Kim nicht mehr dem schwarzhaarigen Jungen gegenüber - sondern einem gewaltigen, kantigen Eisenmann mit einem einzigen grünglühenden Auge. Kim wollte schreien, aber das Entsetzen schnürte ihm die Kehle zu. Gelähmt vor Schreck, daß er sogar aufs Atmen vergaß, stand er da und schaute. Auch der Eisenmann blieb reglos auf seinem Platz und sah aus seinem glühenden Augenschlitz auf Kim herab. In diesem Augenblick fühlte sich Kim vollkommen wehrlos. Wäre der Eisenmann auf ihn zugetreten, um ihn zu packen, hätte Kim nicht den geringsten Versuch gemacht, zu entkommen. Jedoch der eiserne Riese griff ihn nicht an. Statt dessen ruckelte er nach einer Weile langsam an Kim vorbei, bewegte sich ungelenk die steinerne Treppe des Altars wieder hinunter und wandte sich dann nach rechts. Noch einmal blieb er stehen, drehte langsam den mächtigen Schädel und sah zu Kim hinauf. Und obwohl es ganz unmöglich war, denn sein Gesicht bestand ja aus Eisen, das zu keiner Regung fähig war, schien es, als huschte ein Ausdruck sonderbarer Trauer drüber hinweg. Doch schon drehte der Eisenmann den Kopf wieder fort und ging mit schweren, gleichmäßigen Schritten davon.
Kim blickte ihm nach, bis er in der grauen Dämmerung der Halle verschwunden war. Auch dann noch dauerte es lange, sehr lange, bis auch Kim langsam den gewaltigen Altarstein verließ und sich auf den Rückweg ins Schloß hinauf machte.
XXV
Die Sonne war aufgegangen, als er zurückkehrte. Die Katakomben - das hatte Kim jetzt begriffen - gehörten zur Welt der Zwerge, wo die Zeit anderen Gesetzen gehorchte. Die Eingangshalle des Schlosses war leer, und auch auf dem Hof traf Kim niemanden. Ein unheimliches Schweigen hatte sich über Gorywynn gebreitet, und obwohl sich über den Türmen und Mauern ein wolkenloser Himmel spannte, zitterte Kim vor Kälte am ganzen Leib. Er fühlte sich müde, so müde und kraftlos wie niemals zuvor. Der Rückweg war lang und mühsam gewesen, doch die Schwäche in seinen Gliedern kam nicht von dieser Anstrengung. Die Erschöpfung lag tiefer. Vielleicht zum erstenmal im Leben hatte er begriffen, was Mutlosigkeit bedeutete; was es hieß, in einer Situation zu sein, aus der es keinen Ausweg mehr gab, in der jede Entscheidung falsch war, und in der sich alles, was er tat, gegen ihn wendete. Sie hatten verloren. Sie hatten einen Kampf gefochten, den sie von Anfang an nicht hatten gewinnen können. Tief in seinem Innersten hatte Kim dies wohl die ganze Zeit über gespürt, denn er fühlte zwar ein lähmendes Entsetzen und eine mit Worten kaum noch zu beschreibende Furcht, aber überrascht war er nicht.