»Aber ich... ich weiß doch nichts«, murmelte Kim. »Wirklich, ich ... ich habe mich getäuscht. Ich dachte, ich würde den Jungen kennen, aber das ... das ist nicht wahr, und -«
»Aber heute nachmittag ...«, unterbrach ihn Halserburg, »... du warst so bleich, als hättest du ein Gespenst gesehen. Vermutlich hast du gar nicht richtig mitbekommen, worüber deine Mutter und ich gesprochen haben. So verhält man sich nicht, wenn man nichts weiß.«
»Der Professor ist sicher, daß du diesen Jungen kennst«, fügte Gerber hinzu.
»Nein«, Kim blieb stur.
Der Kommissar blickte ihn durchdringend an, dann griff er unter seinen Mantel und zog eine durchsichtige Plastiktüte hervor. Darin eingerollt war ein schwerer Ledergürtel mit einer blitzenden Messingschnalle. »Das hattest du in der Hand, als man dich überraschte«, sagte er. »Möchtest du mir erklären, was es ist?«
»Ein Gürtel«, antwortete Kim.
In Gerbers Augen blitzte es auf, aber er beherrschte sich. »Das wissen wir«, antwortete er gepreßt. »Aber es ist ein sehr sonderbarer Gürtel, nicht? Ich habe so etwas noch nie gesehen - und unser Labor behauptet, daß das Messing von einer Reinheit ist, wie wir es gar nicht herstellen können.«
»Das stimmt«, antwortete Kim. »Es stammt auch nicht von dieser Welt.«
»Wie bitte?« entfuhr es Kommissar Gerber. Überrascht und neugierig beugte er sich vor. Der Roboter auf dem Fernsehschirm tat dasselbe. »Das mußt du mir schon erklären.«
»Der Junge«, sagte Kim mit fester Stimme. »Er kann gar keine Papiere bei sich haben. Er kommt aus einer anderen Welt, und dort gibt es so etwas nicht.«
»Was?« Gerbers Gesicht erstarrte.
»Es gibt ein Land, in dem Märchen wahr sind«, erzählte Kim. Es war das erste Mal, daß er darüber sprach. »Man kann es nur im Traum betreten, wissen Sie! Bisher war das jedenfalls so. Ich war einmal da, und meine Schwester auch, aber das ist lange her, und -«
»Das reicht!« unterbrach ihn Gerber. Er machte sich jetzt gar nicht mehr die Mühe, seinen Zorn zu verbergen. »Wenn du mich auf den Arm nehmen willst, junger Mann, dann mußt du dir schon etwas Besseres einfallen lassen. Warum erzählst du nicht gleich, der Junge käme vom Mars?« Er machte eine zornige Handbewegung. »Ich kann auch anders, wenn es sein muß.«
»Das glaube ich nicht«, sagte da der Vater kühl zum Kommissar.
Gerbers Kopf ruckte mit einer zornigen Bewegung herum. »Sie -«
»Sie«, unterbrach ihn Kims Vater kalt, »scheinen sich nicht ganz im klaren darüber zu sein, daß mein Sohn noch nicht strafmündig ist, Herr Kommissar. Ganz davon abgesehen, daß er nichts Verbotenes getan hat. Aber selbst wenn, haben Sie nicht das mindeste Recht, in diesem Ton mit ihm zu sprechen.«
Kommissar Gerber schluckte ein paarmal trocken. Er sah aus, als würde er jeden Moment in die Luft gehen wie ein überhitzter Dampfkessel. Aber dann stopfte er den Gürtel nur mit einer wütenden Bewegung wieder unter seinen Mantel und stand auf. »Wie Sie wollen«, sagte er. »Sie werden noch von mir hören. Und Ihr Sohn auch.«
»Bitte, meine Herren!« mischte sich Professor Halserburg ein. »Niemand hat etwas davon, wenn wir uns streiten.« Er seufzte, schüttelte ein paarmal den Kopf und wandte sich wieder an Kim.
»Wir wollen dir doch nichts Böses«, sagte er. »Es geht nur um diese Kinder. Sie sind krank. Vielleicht werden sie sterben. Willst du das?«
»Natürlich nicht«, antwortete Kim heftig. »Aber ich ... ich kann Ihnen nicht helfen. Selbst wenn ich wollte -«
»Du willst also nicht«, hakte Gerber nach.
»Unsinn«, sagte der Professor, nun auch in scharfem Ton. »Ich kenne den Jungen - glauben Sie wirklich, er würde uns nicht helfen, wenn er es könnte?«
»Ich glaube gar nichts«, antwortete Gerber zornig. »Das ist mein Beruf.«
Kims Mutter kam mit einem Tablett voller Kaffeetassen aus der Küche, aber Vater machte ein abwehrende Handbewegung. »Das ist nicht mehr nötig«, meinte er kalt. »Die Herren wollen gerade gehen.«
Kommissar Gerber funkelte ihn an, verbiß sich aber jede Antwort, und Professor Halserburg sah plötzlich sehr traurig aus. »Vielleicht überlegst du es dir noch, Kim«, sagte er und griff in die Manteltasche. »Ich gebe dir meine private Telefonnummer. Wenn du mir etwas zu sagen hast, ruf mich an. Ich gebe dir mein Ehrenwort, daß niemand etwas davon erfahren wird. Auch die Polizei nicht«, fügte er mit einem Seitenblick auf Gerber hinzu, der böse zurückstarrte.
»Ich bringe Sie zur Tür«, sagte Vater und stand auf. Er führte die Herren hinaus. Auch der Roboter auf dem Bildschirm wandte sich um und ging. Kim stand auf, setzte sich aber sofort wieder, als ihn ein Blick seiner Mutter traf. Auf dem Bildschirm tobte noch immer die Schlacht zwischen den Robotern und den Männern in der Kristallburg, aber Kim sah jetzt kaum noch hin. Diese Kinder sterben vielleicht, Kim, hatte Professor Halserburg gesagt. Wir wollen ihnen doch nur helfen!
Glaubten sie denn, er wollte das nicht?!
Und plötzlich spürte Kim Angst. Ganz entsetzliche Angst. Daß im Lande Märchenmond etwas Unvorstellbares geschehen war, war für ihn zur Gewißheit geworden. Er mußte dorthin, ganz egal, wie!
Draußen im Flur wurde die Tür geschlossen, dann kam sein Vater zurück. Sein Gesicht war unbewegt, aber seine Augen brannten vor mühsam unterdrücktem Zorn. »Zufrieden?« fragte er.
Kim sah ihn ratlos an.
»Du hast dir ja schon eine Menge geleistet, aber die Polizei hatten wir bisher noch nicht im Haus«, fuhr der Vater aufgebracht fort. »Was steht denn als Nächstes auf deinem Plan?«
»Bitte«, sagte Mutter. »Laß ihn in Ruhe. Du siehst doch, wie leid es ihm tut.«
»Sehe ich das?« Ärgerlich ging ihr Mann zum Tisch und zündete sich eine Zigarette an - und das war nun etwas, was er wirklich nur selten tat. »Ich sehe nur«, fuhr er hustend nach dem ersten Zug fort und wedelte heftig mit der Hand vor dem Gesicht, »daß sich unser Sohn jede Menge Ärger eingehandelt hat. Und uns dazu! Du hast diesen Kommissar doch gehört! Er glaubt ihm kein Wort! Und ich auch nicht«, fügte er mit einem finsteren Blick in Kims Richtung hinzu.
»Aber es ist so, wie ich sage«, verteidigte sich Kim. »Ich weiß nicht, wer dieser Junge ist!«
Sein Vater setzte zu einer wütenden Entgegnung an, besann sich dann aber im letzten Moment und nahm einen weiteren, von einem Hustenanfall gefolgten Zug aus seiner Zigarette. »Also gut«, meinte er, nachdem er wieder halbwegs zu Atem gekommen war. »Wie du meinst. Ich bin die Geheimniskrämerei leid. Geh in dein Zimmer, Sohn. Bis morgen früh hast du dir vielleicht überlegt, ob dein Verhalten klug ist.«
Kim blickte ihn traurig an, dann wandte er sich um und stürmte über die Treppe in sein Zimmer hinauf.
III
Es versteht sich wohl von selbst, daß Kim sich lange schlaflos hin- und herwälzte in dieser Nacht. Ebenso, wie es sich von selbst versteht, daß Kim später doch eindämmerte. Eine Stunde oder länger war er auf seinem Bett gelegen und hatte den Stimmen seiner Eltern gelauscht, die gedämpft aus dem Wohnzimmer herauf drangen, ohne daß er freilich verstand, was sie sprachen.
Nicht, daß das wirklich nötig gewesen wäre - selbst wenn Kim nicht über eine besonders ausgeprägte Phantasie verfügt hätte, wäre es unschwer zu erraten gewesen, was sein Vater und seine Mutter besprachen: Vaters Stimme klang laut und sehr erregt, während die seiner Mutter immer leiser wurde und bald gar nicht mehr zu hören war. Kim setzte in diesem Fall ganz auf das diplomatische Geschick seiner Mutter, die es noch stets irgendwie geschafft hatte, ihren Mann zu besänftigen, wenn diesem wegen Kim wieder einmal der Kragen zu platzen drohte.