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Kim schlug den Weg zum Stadttor ein. Da fiel ihm abermals die fast unheimliche Stille auf, die über Gorywynn lag wie eine unsichtbare Decke, die jeden Laut und alles Leben erstickte. Wohl kaum jemand in dieser Stadt hatte in der vergangenen Nacht viel Ruhe oder gar Schlaf gefunden, so daß schwerlich zu erwarten war, einen Morgen ganz wie sonst zu erleben. Aber es war schlichtweg niemand in den Straßen. Alles war wie leergefegt, selbst die Häuser schienen verlassen. Hinter keinem Fenster rührte sich etwas, keine Tür stand offen, es war auch nicht das geringste Geräusch zu hören, und für einige Augenblicke kam es Kim so vor, als sei er der letzte Überlebende in Gorywynn, möglicherweise in ganz Märchenmond. Vielleicht hatten sie sich alle verwandelt, waren alle zu dem geworden, das schon lange nach ihren Seelen griff: Eisen.

Jetzt näherte sich Kim dem Stadttor, und nun endlich sah er sie - Steppenreiter, Waldläufer und auch Baumleute. Es waren ausnahmslos Krieger, die dem Tor zuströmten, hinter dem Kim eine gewaltige, brodelnde Menge erkennen konnte. Er hörte ein dumpfes Raunen, wie das Geräusch ferner, schwerer Meeresbrandung, und manchmal einen krächzenden Schrei, den der Tatzelwurm oder auch Rangarig ausstoßen mochten. Trotzdem war es zu ruhig. Die Hufschläge der Pferde klangen gedämpft und unnatürlich leise, selbst das Geräusch des Windes, das sich sonst an den Türmen und Zinnen Gorywynns brach wie an den Saiten einer gläsernen Harfe, war verstummt. Es war, dachte Kim schaudernd, als hielte die ganze Welt den Atem an.

Und als er durch das Tor schritt, da sah er, was draußen geschehen war.

Wo am Abend zuvor die Schlacht zwischen Priwinns Heer und den Flußleuten getobt hatte, da zog sich nun eine gewaltige, hundertfach gestaffelte Reihe von Reitern und Fußtruppen dahin: Priwinns Armee, verstärkt durch Tausende und Tausende anderer, die aus allen Teilen des Landes herbeigeströmt waren, um dem neuen König von Caivallon in seiner letzten Schlacht beizustehen - überragt von den gewaltigen Umrissen der beiden Drachen. Die zwei Ungeheuer kreisten knurrend über ihnen und zuckten mit den Flügeln, als könnten sie es kaum noch erwarten, sich auf den verhaßten Feind zu werfen.

Aber Kims Herz schien vor Schreck einen Schlag zu überspringen, als er die gewaltige Masse der feindlichen Armee erblickte. Kaum einen Steinwurf von Priwinns Heer entfernt hatte sie Aufstellung genommen, um zum Sturm auf Gorywynn anzusetzen.

Es waren die Reste der geschlagenen Flußleute, die Priwinns Männern am vergangenen Abend entkommen waren, aber nicht nur sie; längst nicht nur sie. Zwischen den in Leder und Eisen gehüllten Gestalten erblickte Kim zahllose kleinere Schatten, die zerfetzte schwarze Capes trugen, Schwerter schwangen, die kaum länger als ein Dolch waren. Und mit den Zwergen waren die Eisenmänner gekommen. Es waren Tausende, unübersehbar, eine gewaltige, schwarzglitzernde Masse, so weit das Auge reichte. Auf jeden, der sich um Priwinn und die beiden Drachen geschart hatte, kam mindestens einer. Einer für jedes Kind, das aus dem Haus seiner Eltern verschwunden war. Einer für jede Träne, die ein Vater und eine Mutter vergossen hatten. Märchenmonds Kinder waren zurückgekehrt, um den Preis für ihr Schicksal von ihren Eltern einzufordern.

Vielleicht war es ein grausames Schicksal, wahrscheinlich aber nur Zufall, daß der Kampf im gleichen Augenblick entbrannte, in dem Kim aus dem Tor hervortrat. Es gab kein Signal, kein Zeichen. Von einer Sekunde auf die andere erwachten die beiden gewaltigen Heere aus der Ruhe, in der sie bisher verharrt waren, und stürmten aufeinander los. Das unheimliche Schweigen wurde vom Schreien aus unzähligen Kehlen zerrissen. Und einen Augenblick später prallten die Heere fürchterlich und dumpf aufeinander. Die Drachen schwangen sich in einer einzigen, gleichzeitigen Bewegung hoch in die Luft und stürzten sich mit Klauen und Zähnen auf das feindliche Heer. Obwohl dieses an Zahl und vor allem an Kampfkraft sicherlich überlegen war, waren es doch zuerst Priwinns Reiter, die die Angreifer zurücktrieben, und sei es nur durch die pure Wucht ihres ungestümen Vordringens.

Kim schrie entsetzt auf und rannte los. Kaum hundert Schritte von Priwinns Armee entfernt, hatte er das Gefühl, sich kaum von der Stelle zu bewegen. Es vergingen nur Augenblicke, bis er die ersten Männer erreichte, aber es waren Augenblicke, in denen die Schlacht mit ganzer Härte entbrannt war. Auf beiden Seiten gab es bereits Verwundete und Tote, und Kim wußte, daß jeder Tropfen Blut, der vergossen wurde, alles nur schlimmer machen würde, daß jeder einzelne, den Priwinn und seine Männer niederstreckten, ihren Gegner stärken, jeder Sieg, den sie errangen, ihren eigenen Untergang besiegeln mußte. Verzweifelt schrie er immer wieder Priwinns Namen, aber Kims Stimme ging im Tosen der Schlacht unter. Er hatte das Heer kaum erreicht, da steckte er auch schon hoffnungslos zwischen Dutzenden von Männern und Pferden fest. Zwar erkannten die Reiter seine schwarze Rüstung und versuchten auszuweichen, aber das Gedränge war einfach zu groß. Immer wieder rief Kim nach Priwinn, aber vergeblich. Schließlich zerrte er in seiner Verzweiflung einfach einen der Männer vom Pferd herunter und sprang in den Sattel, um auf diese Weise schneller voranzukommen.

Obwohl gerade erst entbrannt, tobte die Schlacht bereits mit voller Härte. Die Luft war so von Staub und Rauch erfüllt, daß Kim kaum sehen konnte, was sich wenige Meter vor ihm abspielte. Der Boden zitterte unter dem mächtigen Zusammenprall der Armeen, und die Männer kämpften mit der Entschlossenheit jener, die wußten, daß nur der Sieg oder der sichere Tod sie erwartete.

»Priwinn!« schrie Kim, so laut er konnte. »Wo bist du?« Er rief es fünf- oder sechsmal, und er rechnete kaum noch damit, Antwort zu erhalten. Aber plötzlich tauchte eine riesige, breitschultrige Gestalt aus dem Staub auf, und einen Augenblick später erschien neben dem Riesen auch der Steppenkönig, schon jetzt erschöpft und aus zwei kleinen Wunden an Stirn und Schulter blutend, aber mit einem Ausdruck grimmiger Entschlossenheit auf dem Gesicht. »Kirn!« rief Priwinn erleichtert. »Endlich! Wo bist du gewesen?« Er machte eine hastige Geste, als Kim antworten wollte, und fuhr gleich fort: »Das ist jetzt auch egal. Zu mir! Reite an meiner Seite. Wenn meine Männer dich sehen, werden sie neuen Mut fassen! Wir können es schaffen!« Kim sagte etwas, aber seine Stimme ging einfach in dem dumpfen Krachen und Bersten um ihn unter. Die Verteidiger Gorywynns wankten und begannen zurückzuweichen, denn die Flußmänner hatten nur die Spitze des feindlichen Heeres gebildet, und hinter ihnen stampfte wie eine Lawine aus Stahl und Gewalt die Front der Eisenmänner heran! Es vergingen nur Sekunden, bis Kim sein Pferd so dicht an das Priwinns herangelenkt hatte, um sich verständlich machen zu können, und doch fielen in dieser kurzen Zeit Dutzende Männer.

Die Eisenmänner waren unbewaffnet, aber sie fegten mit ihren fürchterlichen Armen einfach alles zu Boden oder trampelten nieder, was nicht rasch genug davonlaufen konnte. Doch auch die Steppenreiter verteidigten sich nach Kräften - nicht nur Gorg und die beiden Drachen waren den Eisenmännern gewachsen, auch alle anderen waren in nicht geringer Zahl mit Waffen ausgerüstet, die die eisernen Giganten sehr wohl zu verletzen imstande waren: Schwerter und Dolche aus Zwergenstahl, die sie von Gefangenen erbeutet oder aus den Schmieden und Erzgruben des kleinen Volkes gestohlen hatten. Manchmal warfen sie sich zu zehnt oder mehr auf einen der stählernen Kolosse und rangen ihn trotz seiner überlegenen Kräfte durch ihre pure Überzahl nieder, obwohl diese verzweifelten Angriffe einen furchtbaren Tribut verlangten.

»Hört auf!« schrie Kim. »Priwinn! Ruf sie zurück! Ihr dürft nicht gegen sie kämpfen!«

Priwinn starrte ihn an, als zweifle er an seinem Verstand. »Was sagst du da?«

»Ihr dürft es nicht tun!« wiederholte Kim. »Es ... es sind die Kinder!«

Priwinns Augen weiteten sich, und auch auf Gorgs Gesicht erschien ein Ausdruck von Fassungslosigkeit, dann, eine Sekunde später, von abgrundtiefem Entsetzen.