»Was sagst du da?« murmelte Priwinn noch einmal.
»Die Eisenmänner«, sagte Kim, »sie sind die verschwundenen Kinder, Priwinn - sie sind verwandelt, verstehst du?«
Langsam ließ der Steppenkönig sein Schwert sinken. Seine Augen waren dunkel vor Schrecken und aufgerissen, so stark, daß er nicht einmal blinzelte. Und für einen Moment verzerrte sich sein Gesicht, als litte er unerträgliche Schmerzen. »Du ... du lügst«, stammelte er. »Das ... das kann nicht sein!«
Aber das sagte er nicht, weil er Kim nicht glaubte. So wie der Riese Gorg hatte er im gleichen Moment, als er die Worte gehört hatte, begriffen, daß Kim die Wahrheit sprach. Noch einmal vergingen Sekunden, in denen er einfach im Sattel hockte und Kim ansah, dann drehte er sich langsam um, mit einer Bewegung, die wie erzwungen und unter unsäglichen Mühen wirkte, gab er das Zeichen zum Rückzug. »Hört auf!« schrie er. »Rührt die Eisenmänner nicht an!« Die Männer in seiner unmittelbaren Nähe ließen tatsächlich die Waffen sinken und blickten ihren König verwirrt an, aber der Rest hatte den Befehl wahrscheinlich gar nicht vernommen. Wohin Kim auch blickte, tobte der Kampf mit unveränderter Härte weiter. Ihr Heer wurde Schritt für Schritt zurückgetrieben. Aber auch die Flußleute mit den Eisenmännern mußten schreckliche Verluste hinnehmen. Nur die Zwerge beteiligten sich nicht wirklich an dem Kampf, sondern flitzten mit erstaunlicher Behendigkeit zwischen den stampfenden Beinen der eisernen Giganten hin und her und wichen jeder Konfrontation aus.
»Zurück!« schrie Priwinn noch einmal. »Hört auf! Ich befehle es euch!«
Aber auch diesmal gehorchte nur eine Handvoll Männer. Der Rest wurde nun so rasch, wie sie vorhin vorgedrungen waren, von den Flußleuten und ihren stählernen Kampfgefährten zurückgetrieben. Mehr und mehr von Priwinns Männern fielen unter den Schwertern und Speeren der Flußpiraten. Aber Kim sah auch noch etwas anderes - wo die Eisenmänner nicht angegriffen wurden und sich wehren mußten, da töteten sie die Angreifer nicht, sondern beschränkten sich darauf, sie mit ihren fürchterlichen Klauen zu packen und festzuhalten.
»Hört auf!« schrie nun auch Kim, so laut er konnte.
»Kämpft nicht gegen sie! Es sind eure Kinder!«
Und was Priwinns Befehl nicht vermocht hatte - diese Worte bewirkten es. Plötzlich ließen mehr und mehr Kämpfer ihre Waffen sinken und zügelten ihre Pferde. Anstelle von Haß und Zorn erschien auf ihren Gesichtern ein Ausdruck ungläubigen Schreckens, als sie die näherrückende Armee der eisernen Kolosse ansahen. Doch nicht nur sie vergaßen für einen Moment den Kampf. Kim sah, daß auch eine große Anzahl von Flußleuten vor Schrecken einfach erstarrte, und für Augenblicke schien die gewaltige Schlacht einfach eingefroren, als wäre jeder Mann in der Haltung, in der er gerade dastand, erstarrt. »Es sind eure Kinder!« rief Kim noch einmal. »Kämpft nicht gegen sie!«
Seine Stimme, so laut sie auch war, drang nicht sehr weit, aber mit einem Male nahmen die Männer den Ruf auf, und die Botschaft verbreitete sich in Windeseile. Krieger, die eben noch mit einem Eisenmann gerungen hatten, zogen sich wieder zurück. Männer, die ihre Schwerter und Dolche zum Stoß erhoben hatten, senkten die Arme. Und selbst die beiden Drachen, die bisher mit der Wut entfesselter Dämonen unter den Eisenmännem getobt hatten, schwangen sich plötzlich wieder hoch in die Luft und begannen, über den Platz zu kreisen.
»Zurück!« schrie Priwinn mit weit schallender Stimme. »Wir ziehen uns nach Gorywynn zurück!«
Die Krieger gehorchten. Aber was als geordneter Rückzug gedacht war, das wurde schon nach Augenblicken zu einer kopflosen Flucht. Die Flußleute überwanden ihre Überraschung schnell, und die Eisenmänner hielten erst gar nicht in ihrem Vormarsch inne, sondern stampften mit der Unaufhaltsamkeit von Maschinen weiter. Viele der vor Schrecken wie gelähmt dastehenden Steppenreiter wurden einfach niedergetrampelt, ehe sich das gewaltige Heer herumgedreht hatte und auf die Stadt zurückzubewegen begann. Auch Kim, Priwinn und selbst Gorg wurden einfach mitgerissen, und während sie sich dem Tor näherten, kam Kim die grausame Ironie dieser Situation zu Bewußtsein - am Abend zuvor war es Kim gewesen, dessen Erscheinen das Kriegsglück zu Priwinns Gunsten gewendet und seine Männer zum Sieg geführt hatte. Und nun brachte er ihnen die Niederlage. Da sich die Eisenmänner nicht so schnell bewegen konnten, fielen sie ein Stück weit zurück. Die Flußleute setzten den Fliehenden zwar weiter nach, wagten es aber nicht, ohne ihre stählernen Kampfgefährten das Heer direkt anzugreifen, denn sie waren ihm seit der Niederlage von gestern abend an Zahl hoffnungslos unterlegen. Trotzdem kam es vor dem Stadttor zu Kämpfen zwischen ihnen und den Steppenreitern, denn das Tor war einfach nicht breit genug, die zahllosen Männer rasch passieren zu lassen.
Kim, Priwinn und Gorg gehörten zu den letzten, die sich in die Stadt zurückzogen. Vor allem der Riese mit seinen übermenschlichen Kräften und auch Kim, der von der schwarzen Zauberrüstung geschützt und nahezu unverwundbar war, hielten die Angreifer auf Distanz, bis sich auch die letzten Männer in den Schutz der Wälle zurückgezogen hatten. Aber es war kaum geschehen, da war auch die Front der Eisenmänner heran, und nun wichen auch Gorg und Kim fluchtartig zurück.
Was folgte, war Chaos; ein Vorgeschmack des Weltuntergangs, wie ihn sich die schlimmste Phantasie nicht schrecklicher hätte ausdenken können. Die Eisenmänner stürmten durch das Tor, ohne auch nur eine Sekunde innezuhalten, und mit ihnen drängten die Flußmänner herein, um für die Niederlage vom vergangenen Tag Rache zu nehmen. Und ganz wie diese am gestrigen Abend, waren es nun Priwinns Krieger, die sich Schritt für Schritt weiter in die Stadt zurückzogen und in ihren verwinkelten Gassen Schutz und Unterschlupf suchten, ohne ihn zu finden. Die Eisenmänner drangen in jedes Haus vor, durchsuchten jede Straße, jeden Winkel, jeden Hof, und wo sie einen der Verteidiger fanden, da packten sie ihn und hielten ihn mit unbezwingbarer Kraft fest.
Schritt für Schritt wurden auch Kim und die anderen weiter zurückgedrängt, und ihre Zahl nahm weiter und weiter ab. Schließlich standen sie vor den Burgtoren, keine Eroberer mehr, sondern Geschlagene, die auf den letzten Ansturm warteten.
»Und jetzt?« fragte Priwinn. Sein Atem ging schnell. Er war in Schweiß gebadet, und auf seinen Zügen lag ein Ausdruck vollkommener Mutlosigkeit. Beinahe flehend starrte er Kim an.
»Was jetzt, Kim? Wozu das alles noch?«
Kim sah sich verzweifelt um. Sie waren vielleicht noch hundert, der Rest des gewaltigen Heeres, das aufgebrochen war, um Märchenmond zu retten. Und sie waren von einer zehnfachen Übermacht eingekreist, die unaufhaltsam vorrückte. Er antwortete nicht, und Priwinn hatte wohl auch keine Antwort erwartet, denn er sprang plötzlich aus dem Sattel und stürmte in den Palast hinein. Nach kurzem Zögern folgten ihm Kim und auch Gorg, während sich das kleine Häufchen Verlorener, das noch bei ihnen war, vor dem Tor zusammenrottete, um ihnen eine letzte Gnadenfrist zu verschaffen. Kim warf im Laufen einen Blick über die Schulter zurück und sah, daß die Männer sich nicht mehr wehrten. Sie zogen ihre Waffen nur noch, wenn sie von einem Krieger angegriffen wurden. Den Eisenmännern warfen sie sich mit leeren Händen entgegen und ließen sich widerstandslos packen und forttragen. Es war nur das, was die stählernen Kolosse noch einen Augenblick aufhielt. Priwinn hatte mittlerweile die Treppe erreicht und rannte mit weit ausgreifenden Schritten hinauf. Kim und der Riese folgten ihm, aber der junge Steppenreiter lief so schnell, daß sie Mühe hatten, mit ihm Schritt zu halten. Und sie hatten noch nicht die Hälfte der Treppe hinter sich gebracht, als sie unter sich das Stampfen schwerer, eiserner Schritte hörten, und dann die triumphierenden Schreie der Flußpiraten, die mit den Eisenmännern ins Haus stürmten. Kims Kräfte drohten zu versagen, als sie die Turmkammer erreichten. Mit letzter Mühe schleppte er sich durch den Raum und sank neben Themistokles' Bett auf die Knie. Priwinn, der schon vor ihm hereingekommen war, hatte Themistokles an den Schultern gepackt und rüttelte ihn wild.