»Aber euer Weg ist falsch«, beharrte Kim ruhig. »Ihr tötet eure Welt, um ein wenig besser leben zu können. Ihr verbraucht, was für Generationen nach euch gedacht war, und ihr zerstört, wo andere leben sollten, die noch gar nicht geboren sind. Deshalb sind viele Kinder gegangen. Ihr glaubt, eine bessere Welt erschaffen zu können? Ihr baut eine Welt voller ... Dinge, die euch das Leben erleichtern. Breite Straßen aus Eisen, auf denen eure Wagen schneller fahren, Flüsse, die so fließen, wie ihr es wollt, Maschinen, die eure Arbeit tun.«
»Und was ist falsch daran?« krähte Jarrn.
»Nichts«, sagte Kim, »solange ihr anderen dabei keinen Schaden zufügt. Nicht solange ihr nicht mehr nehmt, als ihr selber gebt. Aber das habt ihr getan. Eure Herzen sind hart wie das Eisen eurer Maschinen geworden. Ihr denkt an Wohlstand, und habt dabei das einzige verloren, was ihr wirklich hattet - eure Zukunft. Wo sind eure Kinder?« Er deutete hinter sich auf das Fenster. »Seht hinaus. Dort sind sie, und viele andere haben Märchenmond verlassen. Sie alle sind der Preis, den ihr für euren Wohlstand bezahlt.«
»Ist das wahr?« fragte der Flußkönig, an Jarrn gewandt. Der Zwerg scharrte wieder angelegentlich mit den Füßen, aber nach einer Welle zuckte er widerwillig mit den Schultern. »Es war nicht meine Idee«, murrte er.
Das Gesicht des Flußmannes verdüsterte sich, aber Kim hielt ihn mit einer Geste zurück. »Laß ihn«, meinte er. »Er sagt die Wahrheit.«
Kim lächelte, als Jarrn den Kopf hob und ihn ungläubig ansah. »Das Volk der Zwerge trägt keine Schuld«, schloß er. »Keine Schuld?« schrie Priwinn. »Sie sind es, die die Eisenmänner machen, und du sagst, sie tragen keine Schuld?«
»Du verstehst immer noch nicht«, murmelte Kim traurig. »Nicht die Zwerge sind es, die die Eisenmänner erschaffen haben. Ihr selbst habt sie erschaffen, und mit ihnen die Zwerge. Ihr wart es, die die Zwerge gerufen haben, nicht umgekehrt. Themistokles hat es uns selbst gesagt - erinnerst du dich nicht? Das Volk der Zwerge entstand erst, als es gebraucht wurde. Von euch. Von all denen unter euch, die sie gerufen haben. Die Zwerge sind so, wie ihr sie erschaffen habt.«
Lange Zeit war es sehr still in dem Gemach. Schließlich ließ sich Priwinn auf einen Stuhl sinken und verbarg mit einem tiefen Seufzer das Gesicht zwischen den Händen. »Dann ist alles aus«, stöhnte er. »Dann war unser Kampf vergebens. Dann gibt es keine Rettung mehr für uns.« Plötzlich spürte Kim etwas Seltsames. Es war, als bewege sich etwas Unsichtbares durch den Raum, ein Hauch von körperloser Wärme, etwas wie ein letztes, flüchtiges Streifen des alten Zaubers, der diese gläserne Burg und die Stadt um sie einmal erfüllt hatte. Und im gleichen Moment schlug Themistokles auf seinem Lager die Augen auf.
Kim wollte zu ihm eilen, aber als ihn Themistokles' Blick traf, da führte er die Bewegung nicht zu Ende.
»Themistokles!« rief Priwinn und sprang auf. Auch der König der Flußleute drehte sich überrascht um und sah den Zauberer an, mit einem Blick, in dem keine Spur von Feindseligkeit lag, sondern Respekt und so etwas wie Ehrfurcht, wenn auch eher derart, wie man sie einem Feind entgegenbringen mochte.
»Der Junge hat recht«, sagte Themistokles plötzlich. Und obwohl er nach wie vor alt und schwach und müde aussah, war es jetzt wieder seine weise Stimme, als sei all das Wissen seines jahrtausendewährenden Lebens zu ihm zurückgekehrt. »Er sagt die Wahrheit, Priwinn«, sprach der Zauberer. »Ihr habt den falschen Weg gewählt. Niemand vermag das Schicksal mit einer Waffe zu besiegen. Und auch Ihr, König des Flußvolkes«, fuhr er, an den Flußmann gewandt, fort, »seid den falschen Weg gegangen. Ihr tötet die Welt, von der Ihr lebt, und dafür wird sie Euch töten. Ihr habt die Kraft der Träume verloren, und damit Eure Zukunft. Denn was ist die Zukunft anderes als unsere Träume? Was sind wir, wenn nicht die Träume derer, die vor uns waren? Ihr seid blind, und Ihr habt nicht begriffen, was Ihr tatet. Manche unserer Kinder haben es gespürt und sind geflohen, in andere Welten. Doch sie werden dort nicht leben können. Und die, die blieben, zahlten den Preis für die Sünden ihrer Väter. Ihr habt den Krieg gewonnen, Märchenmond gehört Euch. Niemand ist mehr da, der es Euch streitig machen könnte. Doch sagt mir - was ist ein Sieg wert, wenn niemand da ist, dem man ihn schenken kann? Die Zukunft dieser Welt wird nicht Euch gehören, sondern allenfalls Euren Maschinen. Aber Maschinen haben keine Träume.«
Der Flußmann schwieg. Ein Ausdruck tiefer Betroffenheit machte sich auf seinen Zügen breit, und plötzlich drehte er sich um und blickte den Eisenmann neben sich an. Der stählerne Koloß erwiderte seinen Blick aus seinem grünglühenden Augenschlitz, und es war Kim, als redeten die Blicke der beiden ungleichen Wesen miteinander.
»Dann ist es so, wie der Steppenreiter sagt?« flüsterte der Flußmann. »Dann ist alles verloren? Dann haben wir keine Zukunft mehr?«
»Nicht auf dem Weg, auf dem Ihr seid«, antwortete Themistokles. »Nicht, solange Ihr nicht begreift, daß man einer Welt nicht mehr nehmen kann, als man ihr gibt und nach dieser Einsicht lebt.«
Wieder war es für lange Zeit still im Raum. Niemand regte sich, ja, niemand schien zu atmen; es war, als wäre die Zeit selbst stehengeblieben. Und dann, ganz langsam, wandte sich der König des Flußvolkes um, zog sein Schwert aus dem Gürtel und legte es neben Kims Waffe auf den kleinen Tisch. Und nach einigen weiteren Augenblicken stand auch König Priwinn auf, bückte sich nach dem abgebrochenen Griff seiner eigenen Klinge und legte ihn zu den beiden anderen.
Kim sah auf, und er erblickte im Gesicht des Flußmannes, dieses mächtigen, starken Königs, der einen solchen Krieg gewonnen hatte, nichts als Trauer und die Bitte um Vergebung. Und die winzige, verzweifelte Hoffnung, daß es noch nicht zu spät sei.
Das war es auch nicht. Denn als sich der Flußmann herumdrehte und den Eisenmann ansah, da war es, als strömte plötzlich goldener Sonnenschein durch das Fenster ins Zimmer, ein schimmernder, milder Strahl, der die Eisengestalt einhüllte und in unsagbar helles Licht tauchte. Der eiserne Koloß gerann zu einem Schatten. Für kurze Zeit stand er da ohne wirklich erkennbare Umrisse.
Und eben dort, wo gerade noch der Eisenmann gewesen war, erschien die Gestalt eines vielleicht zwölfjährigen, dunkelhaarigen Jungen in der aus Leder und Eisen gefertigten Kleidung der Flußleute.
Der Flußkönig schrie auf, warf sich mit einem Satz nach vorn und schloß seinen Sohn in die Arme, und fast im gleichen Augenblick erscholl draußen auf dem Flur ein zweiter und dritter Schrei, und Kim wußte, daß dort ähnliches geschah. Und er dachte, wie es sich bald überall wiederholen würde, hier in der Burg, unten auf dem Burghof, in der Stadt, überall im Land, wo die Menschen begreifen würden, welch fürchterlichen Preis sie um ein Haar für eine Illusion bezahlt hätten, und jetzt ihre verloren geglaubten Kinder wieder in die Arme schlössen.
Als sich Kim wieder zu Themistokles herumdrehte, da war dieser plötzlich kein sterbender Greis mehr, sondern der majestätische, gütige Zauberer, den er kannte, ein Mann mit einem alten und doch zeitlosen Gesicht, mit langem weißem Haar und einem wallenden Bart und Augen, die die Ewigkeit geschaut und begriffen hatten, wie klein und bedeutungslos alles war, was die Menschen taten. Und wie groß trotzdem die Verantwortung, die sie für jede einzelne dieser Taten trugen.
An seinem letzten Tag in Gorywynn - Kim hatte gespürt, daß es so war, als er an diesem Morgen die Augen aufschlug - stand er mit Themistokles, Peer und Bröckchen auf dem gläsernen Balkon des Palastes und blickte auf die Stadt hinab. Kim empfand eine leichte Trauer, aber keine Verbitterung, wußte er doch, daß er Märchenmond zwar verlassen, auf keinen Fall aber verlieren würde. Viel Zeit war vergangen seit jenem Tag, der das Schicksal dieser verzauberten Welt noch einmal zum Guten gewendet hatte, und viel war geschehen seither. Die Flußleute und die anderen Völker Märchenmonds hatten begonnen, wenn schon nicht in Freundschaft, so doch in einem gutnachbarlichen Verhältnis miteinander zu leben, und bald hatten sie begriffen, daß dies für alle von Vorteil war.