Sein Vater zuckte mit den Schultern. »Ich vermute, das wissen sie selbst nicht so genau. Aber es scheint so, als wäre der Junge aus dem Krankenhaus verschwunden. Kommissar Gerber war der Meinung, du könntest ihm irgend etwas dazu sagen. Aber das kannst du natürlich nicht, oder?«
»Natürlich nicht«, beeilte sich Kim zu versichern.
»Genau das habe ich ihm auch gesagt«, sagte der Vater - wobei er ihn mit einem prüfenden Blick maß. »Ich habe ihm erklärt, daß du ihm nichts mehr zu sagen hast und er nur seine Zeit verschwendet. Ich denke, er hat es begriffen. Auf jeden Fall wird er uns nicht weiter belästigen. Aber komisch ist die Sache schon«, fügte er fast lauernd hinzu, als Kim erleichtert aufatmete. »Du erinnerst dich, was der Professor erzählt hat? Daß sie mehrere dieser Kinder aufgegriffen haben, ohne Gedächtnis und scheinbar ohne Sprache?« Kim nickte. Worauf wollte sein Vater hinaus?
»Nun«, fuhr der Vater mit einem abermaligen Achselzucken (und einem noch immer prüfenden Blick in Kims Gesicht) fort, während er sich an den Tisch setzte, »es scheint, als wären sie alle verschwunden. Spurlos.«
»Seltsam«, meinte Kim, »aber was habe ich damit zu tun?«
»Eben«, antwortete sein Vater. »Na ja«, er seufzte. »Sie werden früher oder später schon eine Erklärung finden.« Das wiederum glaubte Kim ganz und gar nicht, aber er hütete sich, das laut auszusprechen. Statt dessen setzte er sich auf den freien Stuhl zwischen seinen Vater und seine Mutter, griff nach dem Milchglas, das schon für ihn bereitstand, und sagte leise und mit einem Lächeln, dessen wahre Bedeutung nur er selbst verstand: »Sicher - wenn sie genug Phantasie dazu haben.«
Sein Vater sah ihn erstaunt an, aber er schwieg. Es war, als spürte er, daß in seinem Sohn etwas vorging, über das sie nicht miteinander reden konnten - und auch nicht brauchten. Es gab Dinge, die mußte man nicht aussprechen. Sonderbar, Kim konnte direkt fühlen, wie der Ärger seines Vaters jetzt einer Mischung aus Verwunderung und einer Art von Verstehen Platz machte, das keinerlei Erklärung benötigte. Sollte doch ein Teil dieses wunderbaren Landes Märchenmond auch in ihm, in Kims Mutter, ja, selbst in diesem unangenehmen Kommissar sein? Vielleicht irgendwo in jedem Menschen?
Das Geräusch eines Lastwagens, der dicht neben dem Haus hielt, drang in Kims Gedanken. Er sah auf und tauschte einen überraschten Blick mit seinen Eltern.
»Die neuen Nachbarn«, sagte seine Mutter. »Du weißt doch - das Haus nebenan ist verkauft worden. - Die Familie zieht heute ein.«
Kim drängte es plötzlich, hinauszugehen und sich die Leute anzusehen, die künftig nebenan wohnen würden. Er sah seinen Vater an, der wie zur Antwort stumm mit dem Kopf nickte, und ging mit raschen Schritten hinaus.
Trotz der noch frühen Stunde war es bereits warm. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel, und es war, als läge etwas Fröhliches, Erleichtertes in der Luft. Fast als wäre ein Schatten vom Himmel gezogen worden, der gar nicht sichtbar, aber doch deutlich dagewesen war.
Kim verscheuchte diesen Gedanken und besah sich den riesigen Lastwagen, der nur wenige Meter entfernt stand. Zwei Möbelpacker in blauen Overalls waren eben dabei, die großen Türen an seinem Heck zu öffnen. Sonst war niemand zu sehen. Da bog ein zerschrammter Mercedes um die Ecke und hielt hinter dem Möbelwagen. Ein Mann und eine Frau stiegen aus und begannen mit den Möbelpackern zu reden. Kim schenkte ihnen nur einen flüchtigen Blick. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf den dunkelhaarigen, schlanken Jungen gerichtet, der nun aus dem Wagen stieg. Der Junge war in Kims Alter, aber ein gutes Stück größer, und obwohl Kim überzeugt war, ihn noch nie zuvor im Leben gesehen zu haben, schien es ihm doch, als wären sie uralte Freunde. Seltsam.
Noch seltsamer war - dem Jungen schien es genauso zu gehen, denn er hielt plötzlich inne und blickte Kim mit gerunzelter Stirn an.
Schließlich überwand sich Kim und ging langsam auf den Jungen zu. Es fiel ihm schwer, den anderen anzureden. »Hallo«, sagte er schließlich.
»Hallo«, gab der Junge zurück. »Kennen wir uns?«
»Ich ... glaube nicht«, sagte Kim stockend. »Ihr seid die neuen Nachbarn, nicht wahr?«
Der Junge nickte. »Ja. Wie heißt du?«
»Kim. Und du?«
Der Junge starrte ihn verblüfft an, so als hätte er etwas äußerst Erstaunliches gehört. »Ich heiße Peter«, sagte er dann. Er trat einen Schritt zurück, um einem noch kleineren, ebenfalls schwarzhaarigen Jungen Platz zu machen, der jetzt hinter ihm aus dem Wagen kletterte. »Und das ist mein Bruder Jan«, fügte er hinzu und grinste. »Ein Widerling, aber sonst ganz nett.«
Jan stieg schnaubend aus dem Wagen. Er drehte sich einmal im Kreis, um sich in aller Ruhe umzusehen. Kim bemerkte erst jetzt, daß er das Ende einer Leine in den schmutzigen Fingern hielt und schluckte, als er sah, was am Ende dieser Leine auf krummen Beinen hinter Jan hergewatschelt kam. Falls das ein Hund sein sollte, dann war es bestimmt das häßlichste Exemplar, das Kim jemals zu Gesicht bekommen hatte. Jedenfalls dachte Kim, daß es ein Hund war. Ganz sicher war er nicht.
»Ich sehe schon, du findest Jans Köter genauso hübsch wie ich.« Peter lachte leise. »Aber die beiden hängen aneinander wie Kletten. Und irgendwie passen sie gut zueinander, oder?«
Kim antwortete nicht. Er blickte gebannt auf den kleinen Hund, der jetzt auf ihn loswatschelte. Erbeschnüffelte interessiert Kims Turnschuhe und zupfte dann an Kims Hosenbein. Winselnd blickte er dabei zu Kim hoch, während sein Speichel die Hose bekleckerte, und in seinen Augen stand deutlich: Hunger!
Kim war viel zu verblüfft, um sich auch nur zu rühren. Erst als er die Nässe spürte, sprang er rasch zurück.
Jan grinste hämisch. »Hallo, Blödmann«, sagte er.