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Ihm blieb keine Zeit, den Gedanken zu Ende zu verfolgen, denn Kim war keineswegs außer Gefahr. Der Roboter mochte besiegt sein, aber das Haus brannte noch immer, und die Flammen hatten mittlerweile fast von dem gesamten Korridor Besitz ergriffen. Selbst unter dem Körper der Echse züngelten gelbe und rote Flammenzungen hervor, ohne daß sie es jedoch zur Kenntnis zu nehmen schien. Wahrscheinlich schützte sie ihr dicker Schuppenpanzer vor der Hitze.

Aber Kim besaß keinen solchen Schutz. Er begann die Hitze immer stärker und stärker zu fühlen, und jeder Atemzug wurde zur Pein. Hustend stemmte er sich in die Höhe, sah sich um und bemerkte entsetzt, daß die Flammen jetzt auch die Tür zu seinem Zimmer völlig ausfüllten. Der Raum war ein loderndes Inferno, das eher an das Innere eines Hochofens erinnerte denn an das Zimmer, das er seit vierzehn Jahren bewohnte. Auch das Schlafzimmer seiner Eltern brannte. Es blieb nur noch der Weg in Rebekkas Zimmer. Kim hustete, machte einen großen Schritt, um nicht über den Schwanz der Echse zu stolpern, taumelte durch die Tür - und prallte mit einem überraschten Laut zurück. Rebekkas Zimmer brannte nicht.

Es war auch nicht mehr Rebekkas Zimmer. Es war überhaupt kein Zimmer mehr.

Vor Kim erstreckte sich eine scheinbar unendliche, in düsteren Braun- und Schwarztönen gehaltene Landschaft, in der nur wenige, verkrüppelt wirkende Bäume und bizarres Buschwerk wuchsen, die an Gebilde aus geflochtenem Stacheldraht erinnerten. Die Tür, durch die er getreten war, war auch keine Tür, sondern ein gezacktes Loch in einer gewaltigen Wand aus schimmerndem Glas, die sich so weit erstreckte, wie das Auge reichte.

Etwas berührte ihn an der Hüfte. Kim drehte sich herum und machte einen erschrockenen Schritt zur Seite, als er sah, daß es der Riesensalamander war. Er war ihm gefolgt und hatte neben Kim haltgemacht. Der Blick seiner faustgroßen kalt schimmernden Reptilienaugen bohrte sich in den des Jungen. »Wasssss issssst?« zischelte die Echse. »Worauf wartessssst du? Dasssss sssssie zurückkommen?« Sie bewegte unruhig den gewaltigen, dreieckigen Schädel und kroch einen Schritt auf Kim zu. Ihr Schwanz peitschte unruhig. »Steig auf«, zischelte sie. »Wir müsssssen machen, dasssss wir wegkommen. Diesssser eine war nicht allein.« Kim machte keine Anstalten, auf den Rücken der Echse zu steigen.

Er tat überhaupt nichts. Wenigstens nicht gleich.

Er stand einfach da und starrte abwechselnd den sprechenden Riesensalamander und die unwirkliche Landschaft vor sich an, und ganz, ganz langsam begriff er, wieso ihm dieses Wesen so bekannt vorgekommen war. Was vor ihm stand, das war nichts anderes als einer der beiden Leguane aus dem Terrarium seiner Schwester. Nur war es kein Zwerg mehr, sowenig, wie die unheimliche Sumpflandschaft vor Kim länger das Innere des Terrariums war. Zugleich fiel ihm schlagartig ein, wo er sich befand. Das war nicht mehr das Haus seiner Eltern. Nicht einmal dieselbe Stadt, ja, nicht einmal mehr dieselbe Welt. Kim hatte den Weg gefunden, nach dem er so verzweifelt gesucht hatte. Er war im Lande Märchenmond.

Stunden später war Kim nicht mehr so sehr überzeugt davon, daß die öde, monotone Welt, durch die ihn die Echse trug, wirklich das Land war, für das er es hielt. Und in Wahrheit hatte er auch keinen Zeitbegriff mehr; er wußte nicht, ob er seit zwölf oder erst zwei oder gar schon zweihundert Stunden auf dem geschuppten Rücken des Riesensalamanders hockte; jedenfalls fühlte er sich, als wären es viele Stunden gewesen.

Das gewaltige Tier trottete recht gemächlich über den sumpfigen Boden, wobei es ziemlich rücksichtslos in Wasserlöcher platschte, durch dorniges Unterholz brach oder sich unter tiefhängenden Zweigen der wenigen Bäume hindurchschlängelte, die seinen flachen Körper zwar nicht berührten, dafür aber den seines Reiters. Kims Gesicht war bald zerschrammt und voller blutiger Kratzer, sein Pullover hing in Fetzen - die Haut darunter zu einem guten Teil auch - und sein Rücken wie auch ein gewisser Körperteil etwas tiefer darunter schmerzten unerträglich. Kim hatte die Echse ein paarmal gebeten, anzuhalten oder wenigstens etwas genauer darauf zu achten, wo sie lief, aber diese schien der menschlichen Sprache plötzlich nicht mehr mächtig zu sein.

Stunde um Stunde war sie dahingetrottet, hatte Bäche durchwatet und kleine Waldstücke durchquert. Sie war durch Sümpfe und gewaltige Schlammlöcher gekrochen, aus denen stiegen Blasen auf, die ein übelriechendes Gas entließen, sobald sie an der Oberfläche platzten. Es war dunkel geworden, aber nicht ganz. Ein unheimlicher, grauer Schimmer am Himmel war geblieben, obwohl Kim weder Mond noch Sterne entdecken konnte. Und irgendwann später hellte es auf, aber wie die sonderbar halbdunkle Nacht auch nicht ganz - der Tag blieb verhangen wie ein regnerischer früher Novemberabend, obwohl die Sonne vom Himmel schien.

Kim mußte trotz seiner unbequemen Lage und trotz des Tohuwabohus, das in seinen Gedanken herrschte, irgendwann auf dem Rücken seines absonderlichen Schuppentaxis eingeschlafen sein, denn als er die Augen wieder aufschlug, hatte sich seine Umgebung verändert: Vor ihm erstreckte sich noch immer sumpfiges Ödland, in dem Bäume und Büsche wie aus hartem schwarzen Draht wuchsen, aber der Himmel war lichter geworden, und hier und da entdeckte Kim einen Tupfen von Grün und Rot zwischen den tristen Farbtönen des Sumpfes.

Es fiel auf, daß das schweigsame Reittier langsamer geworden war, und kaum hatte Kim dies bemerkt, da blieb es wie auf ein Stichwort hin völlig stehen und wackelte mit dem Kopf. Kim verstand und kletterte steifbeinig von seinem Rücken.

Jeder einzelne Knochen in seinem Leib tat ihm weh. Stöhnend reckte er sich, machte einen vorsichtigen Schritt und biß die Zähne zusammen, als sein Rücken und sein wundgesessenes Hinterteil mit heftigen Schmerzen auf die Bewegung reagierten. Die Echse stand ein Stück abseits und blickte ihn schweigend, aber sehr aufmerksam aus ihren großen, glitzernden Augen an. Kim erwiderte ihren Blick, aber nicht sehr lange. Obwohl ihm dieses Wesen zweifellos das Leben gerettet hatte, fühlte er sich in seiner Nähe nicht besonders wohl. Das Reptil strahlte eine Fremdartigkeit aus, die ihn schaudern ließ.

Trotzdem zwang sich Kim zu einem Lächeln, als er sich vollends zur Echse umwandte. »Ich dachte schon, du wirst überhaupt nicht mehr müde«, sagte er. »Wie weit sind wir gelaufen?«

»Keine Pause«, antwortete die Echse. »Weiter gehe ich nicht. Du bisssst jetzt in Sssssicherheit.«

Kim warf einen raschen Blick in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. »Du meinst, sie kommen nicht hierher?« fragte er.

»Dasssss wagen sssssie nicht«, versicherte ihm die Echse. Dann gab sie einen Laut von sich, der sich anhörte, als wollte ein Krokodil plötzlich lachen. »Und wenn doch, dann werden sssssie sssssich wundern. Sssssollen sssssie nur kommen. Ich zerreissssse sie.«

Kim dachte daran, wie die Echse den Roboter erledigt hatte, und glaubte ihr auf Anhieb.

»Ich ... danke dir jedenfalls«, sagte er. »Für alles, was du getan hast. Ohne dich wäre ich jetzt tot.«

»Ssssstimmt«, zischte das Schuppenwesen, kniff ein Auge zu und musterte ihn kalt aus dem anderen. »Und?«

»Oh ... nichts ...«, murmelte Kim, »es hätte mir nicht gefallen, das ist alles.«

Die Echse würdigte ihn nicht einmal einer Antwort, sondern drehte sich auf der Stelle herum und begann in die Richtung zurückzukriechen, aus der sie gekommen waren. Kim konnte nicht sagen, warum, aber er hatte das sichere Gefühl, daß sie sich in seiner Nähe so wenig wohl fühlte wie er umgekehrt in der ihren. Und obwohl es ihm ein bißchen ungerecht vorkam, war er erleichtert, daß sie ging.

Trotzdem rief er das Tier noch einmal zurück. »Rosi?« Er hatte keine Ahnung, welcher der beiden Leguane es war, aber das Wesen blieb tatsächlich stehen und wandte ihm den mächtigen Schädel zu. »Warum nennssssst du mich ssssso?« zischelte es in leicht verärgertem Ton. »Entschuldige«, sagte Kim hastig. »Ich meine, versteh das nicht falsch, aber für mich seht ihr beide gleich aus. Wenn du nicht Rosi bist, mußt du Rosa sein.«