»Mein Name ist Lizard«, fauchte die Echse. »Deine Schwester nennt mich Rosi. Ein dämlicher Name.«
»Lizard, entschuldige«, stammelte Kim hastig. »Das konnte ich ja nicht wissen.«
»Jetzt weissssst du esssss«, zischelte die Echse übellaunig und fuhr sich mit der langen, geschmeidigen Zunge über die Lippen. Kim überlegte dabei, ob sie vielleicht hungrig war, beschloß aber, daß er die Antwort lieber nicht wissen wollte. »Wohin gehst du?« fragte er.
»Fort«, antwortete Lizard. »Mein Reich endet hier. Du mussssst schon allein weitergehen.«
»Allein?« murmelte Kim. Unbehaglich sah er sich um. Die Landschaft war nicht mehr ganz so öde wie bisher, aber auch alles andere als einladend. »Aber wohin soll ich denn gehen?«
»Du wirssssst schon den Weg finden«, erwiderte Lizard. »Du wolltessssst ins Land der Träume, nicht? Du bissssst da.«
»Da?« wiederholte Kim verständnislos. »Du mußt dich irren. Das hier ist ...«Er brach verwirrt ab. Die Landschaft, in der sie sich befanden, war alles andere als ein Traumland. Eher schon ein Alptraumland.
»Das hier ist nicht das Land der Träume«, sagte er schließlich.
»Issssst es doch«, antwortete Lizard. »Nur nicht deiner Träume. Hast du gedacht, allesssss richtet sich nach dir, Warmblüter?«
Kim blickte die Echse verdattert an. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, was er gerade gehört hatte. Und vor allem, was es bedeutete.
»Moment mal!« sagte er. »Du willst damit sagen, daß ... daß das hier ... daß das hier dein Märchenmond ist? Dein Traumland?«
»Hassssst du wasssss dagegen?« erkundigte sich Lizard lauernd.
»Keineswegs«, versicherte Kim eilig. »Ich ... ich war nur überrascht, das ist alles. Ich habe gedacht, daß ...«
»Ja?« fragte Lizard, als Kim mitten im Satz stockte. Kim sah das riesige Schuppenwesen verstört an. Es fiel ihm schwer, weiterzusprechen. Wie oft hatte er die beiden Leguane beobachtet, wie sie hinter der Scheibe ihres gläsernen Gefängnisses saßen, scheinbar zur Reglosigkeit erstarrt, nichts als kleine, geistlose Tiere, die er nicht einmal hübsch fand. Kim schauderte abermals.
»Ich habe nicht gewußt, daß ihr auch träumt«, meinte er schließlich.
»Tun wir aber«, gab Lizard unfreundlich zurück. »Und jetzt gehe ich. Lauf einfach geradeaus, dann kommssssst du schon, wohin du willssssst.«
»Warte noch«, sagte Kim hastig.
Lizard blieb noch einmal stehen und starrte ihn mißmutig aus einem Auge an. Das andere bewegte sich unabhängig davon in einer anderen Richtung und suchte den Sumpf ab. »Wasssss issssst denn noch?«
»Nur noch eine Frage«, sagte Kim. »Wovon träumt ihr?« Unverhohlen starrte ihn die Echse weiter an, bis Kim sich immer unbehaglicher unter ihrem Blick zu fühlen begann. Dann gab Lizard einen Laut von sich, der wieder wie ein Lachen klang; vielleicht war es aber auch das genaue Gegenteil.
»Von der Freiheit«, sagte Lizard.
Kim antwortete nicht. Schweigend und sehr, sehr betroffen blieb er stehen, bis sein geschuppter Retter zwischen den Büschen verschwunden war.
IV
Kim war weiter in die Richtung gewandert, in die Lizard ihn den ganzen Tag über getragen hatte, und von der er ziemlich willkürlich bestimmte, daß sie Süden sei (später sollte er herausfinden, daß sie es wirklich war, und zwar aus dem einzigen Grund, weil er wollte, daß sie es war). Schließlich war er so müde geworden, daß er sich auf einem Flecken halbwegs trockenen Bodens ausstreckte und auf der Stelle einschlief. Als Kim die Augen aufschlug, war es dunkel geworden, und zum erstenmal, seit er die Grenzen nach Märchenmond überschritten hatte, war es tatsächlich Nacht. Der Himmel war schwarz und nicht von diesem düsteren, wattigen Grau, das an das Licht einer Straßenlaterne erinnerte, die weit entfernt im Nebel brannte und einem das Gefühl gab, nicht mehr richtig atmen zu können. Obwohl aus dem Sumpf immer noch große Gasblasen aufstiegen, die unangenehme Gerüche entließen, trug der Wind doch einen Hauch angenehmer Kühle heran.
Kim war nicht von selbst erwacht, sondern eine Berührung hatte ihn geweckt.
Er setzte sich mit einem Ruck auf und sah sich um. Im allerersten Moment erkannte er rein gar nichts, so tief und absolut war die Finsternis, die ihn umgab. Fast wünschte sich Kim das graue Nebellicht der Echsenwelt zurück. Aber dann gewöhnten sich seine Augen an das blasse Sternenlicht, und er sah schattenhafte Umrisse.
Allerdings war Kim nicht sicher, ob es so gut war, etwas zu erkennen ... Kim war tatsächlich von jemandem wachgerüttelt worden. Und dieser jemand hockte noch immer neben Kims rechtem Bein und betrachtete abwechselnd ihn und den Turnschuh an seinem Fuß.
Kim mußte sich beherrschen, um nicht angeekelt das Gesicht zu verziehen. Das Wesen, das an seinem Zeh geknabbert hatte, war nur so groß wie eine Katze, aber nicht annähernd so niedlich. Genauer gesagt, war es die häßlichste Kreatur, die Kim jemals zu Gesicht bekommen hatte: klein und rauh und von einer undefinierbaren Farbe, die irgendwo zwischen Schleimgrün und Matschbraun schwankte. Obwohl sein Körper dort, wo er nicht aus Stacheln und Widerhaken und rasiermesserscharfen Krallen bestand, über und über mit Schuppen bedeckt war, schimmerte er feucht und klebrig, und der Gestank, den das Wesen verbreitete, nahm einem schier den Atem. Seine übergroßen Triefaugen musterten Kim tückisch. Und aus dem offenstehenden Maul, in dem eine Reihe kleiner, aber nadelspitzer Zähne blinkte, tropfte Speichel auf den Boden. Es musterte Kim von oben bis unten - mit einem Blick, als überlegte es, wo es zuerst hineinbeißen sollte.
»Hai... lo«, sagte Kim stockend. Vorsichtig setzte er sich auf, bekämpfte tapfer seinen Widerwillen und zwang sich sogar zu einem Lächeln.
»Wer bist du denn?«
Das kleine Scheusal sabberte heftig, antwortete aber nicht. Kim schluckte ein paarmal, um das Gefühl der Übelkeit, das der Anblick dieser Gestalt in ihm auslöste, nicht zu übermächtig werden zu lassen, setzte sich ganz auf und zog die Knie an den Körper. In den trüben Augen des kleinen Ekels machte sich ein Ausdruck von Enttäuschung breit, als der Turnschuh zurückgezogen wurde, aber es rührte sich noch immer nicht.
Kim versuchte es noch einmal. »Verstehst du mich?« fragte er. »Ich meine - verstehst du, was ich sage? Nein? Komm mal her.« Obwohl ihm allein der Anblick des Tieres den Magen herumdrehte, beugte er sich vor und streckte die Hand aus. Schließlich konnte das Wesen nichts für sein Aussehen. Wahrscheinlich war Kim in seinen Augen auch nicht wesentlich hübscher, allenfalls appetitlicher, und das im wortwörtlichsten Sinn. Kim wußte, daß man nicht unbedingt vom Äußeren eines Lebewesens auf seinen Charakter schließen sollte.
Nicht unbedingt und nicht immer. Aber manchmal eben doch.
Das kleine Monster blickte ihn einen Moment lang aus einem Auge an, richtete den Blick des anderen auf seine ausgestreckte Hand und schnupperte schließlich an seinem Zeigefinger wie ein Hund, der Witterung aufnahm.
Dann biß es herzhaft hinein.
»Iaaaa!« brüllte Kim, sprang mit einem Satz auf die Füße und riß den Arm zurück. Klein-Ekel hatte sich allerdings in seinen Finger verbissen und dachte nicht daran, loszulassen. Kim schrie vor Schmerz und Wut, hüpfte wie von Sinnen abwechselnd auf dem rechten und auf dem linken Bein herum und schwenkte den Arm wild hin und her, ohne daß das Tier seinen Biß lockerte.
»Mistvieh!« schrie Kim. »Aua! Laß sofort los!«
Aber das Tier dachte nicht daran - ganz im Gegenteil. Jetzt begann es auch noch mit allen vier Klauen seine Hand zu bearbeiten und wickelte den langen Schwanz, der mit scharfen, spitzen Stacheln übersät war, um Kims Unterarm, um mehr Halt zu haben. Kim kreischte, ließ den Arm wie einen Dreschflegel vor dem Gesicht in der Luft wirbeln - und schaffte es endlich, das kleine Monstrum abzuschütteln. Mit einem pfeifenden Laut flog es durch die Luft und landete meterweit entfernt in einem Busch. Nur um sofort auf seinen winzigen Beinchen wieder heranzuwieseln.