»Mir fehlt nichts«, sagte Kim. »Es ist nur ...«
»Ja?« Seine Tante legte ihm die Hand auf die Schulter und sah ihm aufmerksam ins Gesicht. Kim widerstand im letzten Moment der Versuchung, auch ihre Hand abzustreifen.
»Ich fühle mich ... ein bißchen komisch«, meinte er schließlich.
Tante Birgit musterte ihn noch einmal durchdringend und sehr ernst, dann nahm sie die Hand von seiner Schulter und legte sie statt dessen auf seine Stirn. »Fieber hast du jedenfalls nicht«, stellte sie sachlich fest.
»Das ist es auch nicht«, sagte Kim hastig. »Mir ist nur ein bißchen flau im Magen. Vielleicht kriege ich eine Grippe.«
»Vielleicht«, meinte seine Tante. Dann fragte sie: »Hast du heute überhaupt schon was gegessen?«
»Sicher«, antwortete Kim. »Du weißt doch, daß Mutter mich nicht ohne Frühstück aus dem Haus läßt.«
»Ohne Frühstück?« Tante Birgit blickte ihn zweifelnd an. »Es ist jetzt fast vier!«
»Ich hatte keinen Hunger«, sagte Kim. »Und es ist auch nicht so -«
»Unsinn«, unterbrach ihn Tante Birgit, nicht laut, aber in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Wir gehen jetzt ins Cafe hinüber, und du wirst ein Stück Kuchen essen, oder besser zwei.«
Kim gab auf. Er kannte diesen Ton und wußte, wie sinnlos jedwede Art von Widerspruch war. Trotzdem versuchte er es noch einmaclass="underline" »Mutter und Becky sind bestimmt gleich zurück, und -«
»Die werden uns schon finden«, unterbrach ihn seine Tante energisch. »Außerdem haben wir von drüben einen ausgezeichneten Blick auf die Einfahrt. Und ich habe die Wagenschlüssel - schon vergessen? Davon abgesehen, könnte ich jetzt eine Tasse Kaffee vertragen. Also komm.«
»Ist... was passiert?« fragte Kim mit einer Geste auf den Krankenwagen. Jemand hatte endlich das Blaulicht ausgeschaltet, und die beiden Fahrer hatten den Wagen verlassen. Einer von ihnen stand mit in den Taschen vergrabenen Händen da und betrachtete kopfschüttelnd den eingedrückten Kotflügel des Wagens. Kim hatte den Unfall gesehen, wie die meisten Leute hier: der Wagen war mit quietschenden Bremsen, aber doch recht gemächlich gegen einen der steinernen Poller gekracht, die den Torbogen flankierten, nachdem er den Bordstein hinaufgehüpft war und etliche Blumenbeete umgepflügt hatte. Es hatte nicht einmal richtig geknallt, sondern eigentlich nur leise geknirscht. Trotzdem waren der gesamte Kotflügel und die Hälfte der Kühlerhaube zertrümmert, und die Stoßstange so weit in den Wagen hineingeschoben, daß sie den Reifen aufgeschlitzt hatte.
Gottlob war der Wagen leer und die beiden Fahrer angeschnallt gewesen, so daß niemand verletzt war. Der Fahrer hatte das Blaulicht nur eingeschaltet, damit keiner der nachfolgenden Wagen auf das Wrack auffuhr, das quer stand und die halbe Straße blockierte.
»Wie ist es denn dazu gekommen?« fragte Kim neugierig. Einen Augenblick lang blickte seine Tante ihn mit unverhohlenem Mißtrauen an, als überlegte sie, ob Kims Übelkeit vielleicht nur vorgetäuscht war, damit er doch noch einen Blick auf den Unfall erhäschen konnte. Aber dann schien sie zu dem Schluß zu kommen, daß dem nicht so war. Sie zuckte mit den Schultern und deutete auf eine kleine Gruppe, die sich ein Stück weit in den Torbogen zurückgezogen hatte und aufgeregt diskutierte. Kim sah den zweiten Krankenwagenfahrer in seiner weißen Kleidung und einen hochgewachsenen, dunkelhaarigen Jungen zwischen zwei uniformierten Polizeibeamten. Etwas an diesem Jungen war seltsam, aber Kim konnte nicht sagen, was.
»Der Junge da«, fing Tante Birgit an. »Er ist einfach auf die Straße gesprungen. Der Fahrer mußte den Wagen herumreißen, um ihn nicht zu überfahren, und da hat er die Gewalt über das Steuer verloren. Jedenfalls habe ich das so gehört.«
Kim stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Die beiden Polizisten, der Krankenwagenfahrer und der Junge standen im Schatten des gemauerten Torgewölbes, so daß er sie nicht richtig erkennen konnte. Trotzdem, irgend etwas an diesem Jungen war... sonderbar. Sein Gesicht wirkte seltsam leer und teilnahmslos, als ginge ihn das alles, was rings um ihn geschah, gar nichts an. Einer der beiden Polizisten hatte ihn an der Schulter ergriffen, redete auf ihn ein und schüttelte ihn. Der Junge reagierte nicht darauf. Es schien fast so, als merke er es gar nicht.
»Schock«, diagnostizierte seine Tante, die Kims neugierigen Blick natürlich bemerkt hatte. »So etwas kommt oft vor. Wahrscheinlich wird es eine Weile dauern, bis sich der arme Kerl überhaupt erinnert, was geschehen ist. Na ja«, fügte sie mit einem Seufzer hinzu, wandte sich um und deutete zugleich auf Kim und auf das Cafe drüben. »Man wird sich schon um ihn kümmern. Wozu ist das hier ein Krankenhaus? Komm jetzt - ehe mir wieder einfällt, daß ich dir eigentlich verboten hatte, hier zu gaffen.«
Kim gehorchte, aber nicht, ohne noch einen letzten, sehr aufmerksamen Blick auf den Jungen zu werfen. Woher kam bloß dieses Gefühl, daß er ihn irgendwoher kannte. Nein - nicht kannte. Kim wußte genau, daß er sein Gesicht noch nie zuvor gesehen hatte. Und doch sagte ihm eine innere Stimme, daß er genau wissen müßte, wer dieser Junge war. Ja, es war seltsam.
Seltsam - und sehr beunruhigend.
Wider Erwarten schmeckte der Kuchen herrlich, nachdem Kim die ersten Bissen heruntergewürgt und mit einem Glas Cola nachgespült hatte. Coca-Cola und Käsekuchen - das grenzte ja schon an Geschmacksverwirrung! Seine Beunruhigung ließ im gleichen Maße nach, wie sein Zittern aufhörte. Und nach einer Welle verschwand auch das Durcheinander in Kims Verstand, und er begann mehr und mehr einzusehen, daß er sich die Gestalt im Spiegel wohl doch nur eingebildet hatte.
Kim fand sogar eine Erklärung dafür, und sie war noch dazu so einfach. Er kam sich jetzt reichlich albern vor, daß sie ihm nicht schon in der allerersten Sekunde eingefallen war. Es war dieser Ort, dieses Cafe, vor dessen Fenster er Themistokles damals gesehen hatte, und das Krankenhaus auf der anderen Straßenseite, in dem alles begonnen hatte. Die Erinnerungen waren einfach zu übermächtig hier. Für einen Moment hatten sie seinen Blick für die Wirklichkeit getrübt - und wie hatte er auch anderes erwarten können? Kim hatte geglaubt, irgendwann damit fertig zu werden, aber natürlich stimmte das nicht. Es gab Dinge, über die man nie wirklich hinwegkam. Und dazu gehörte das Abenteuer in Märchenmond.
Das erste Stück Kuchen weckte Kims Appetit erst richtig, und er lehnte nicht ab, als Tante Birgit - nicht ohne einen weiteren, fast entsetzten Blick auf die sonderbare Zusammenstellung seiner Mahlzeit - ihm anbot, ein zweites Stück zu bestellen. Tatsächlich hatte Kim seit dem Frühstück nichts mehr zu sich genommen - abgesehen von fünf Streifen Kaugummi. Das war an sich nichts Besonderes: Kim war alles andere als ein Feinschmecker. Er betrachtete Essen als notwendiges Übel. Er mochte regelmäßige Mahlzeiten nicht, und aß nur dann gern, wenn er wirklich Hunger hatte. Jetzt hatte er Hünger, und es schmeckte ihm ausgezeichnet.
Während Kim dasaß und mampfte, betrachtete er die Szene vor der Krankenhauszufahrt. Die Straße war vollkommen verstopft. Der Abschleppwagen hatte sich in einem Slalom, zum Teil über den Bürgersteig fahrend, zu dem Wrack durchgekämpft, aber hinter und vor ihm verbarrikadierten bereits unzählige Autos die Straße. Zu Anfang waren es nur ein paar Neugierige gewesen, die langsamer fuhren und damit die Autos hinter ihnen behinderten, aber schon bald war der Verkehr vollständig zusammengebrochen. Der Stau reichte längst bis zum Ende der Straße und darüber hinaus. Kim beobachtete nicht ohne ein gewisses Maß an Schadenfreude, wie einer der beiden Polizisten ebenso tapfer wie vergeblich versuchte, Ordnung in das Chaos zu bringen.
Kims Blick löste sich von dem Gewusel aus Automobilen und Fußgängern und blieb an der grüngekleideten Gestalt des Polizisten hängen, der in diesem Moment aus der Toreinfahrt kam und versuchte, sich zu seinem Streifenwagen durchzukämpfen. Er war allein.