Taumelnd vor Erschöpfung betrat er das Gebäude und sah sich hastig um. Es war viel stiller hier als in der Aufnahme. Es gab keine Theke, sondern nur eine Glasscheibe mit einem runden, metallgefaßten Guckloch, hinter dem aber niemand war, und zwei Aufzüge in der gegenüberliegenden Wand.
Die Türen des einen schlössen sich in diesem Moment - und Kim erhaschte gerade noch einen Blick auf braunes Wildleder und wadenhohe, geschnürte Stiefel.
Verdammt! Er war genau eine Sekunde zu spät!
Schon wollte Kim losstürzen, um in den zweiten Aufzug zu springen, da begriff er, daß ihm das gar nichts nützte. Blitzschnell schlug er einen Haken nach rechts, rannte auf die Treppe zu und begann, immer zwei, manchmal drei Stufen auf einmal nehmend, hinaufzuhetzen. In der ersten Etage angekommen, sah er gerade noch, wie das Licht über der Aufzugtür erlosch, wirbelte mitten in der Bewegung herum und raste die nächste Treppe hinauf.
Dann die nächste. Die übernächste. Und auch die vierte. Seine Aussichten, als jüngster Patient mit Herzinfarkt gleich selbst ein Zimmer in dieser Klinik zu beziehen, standen nicht schlecht, als er das fünfte Stockwerk erreichte und sah, wie sich die Aufzugtüren öffneten.
Kim schwindelte vor Anstrengung. Er spürte, wie aus seinem Magen eine heftige Übelkeit emporstieg, während er schweißgebadet und keuchend gegen die Tür sank, die vom Treppenhaus in den Korridor führte. Der fremde Junge trat in Begleitung eines Krankenpflegers in diesem Augenblick aus dem Lift. Sie wandten sich nach rechts und gingen sehr rasch in die entgegengesetzte Richtung, so daß der Pfleger ihn gottlob nicht sah. Auch der Junge sah ihn nicht, aber Kim konnte einen flüchtigen Blick auf sein Gesicht werfen. Es wirkte noch immer so leer und ausdruckslos wie unten in der Toreinfahrt. Der Fremde war - wie hatte Tante Birgit es ausgedrückt? - tatsächlich sehr sonderbar gekleidet: Seine Füße staken in wadenhohen, fast hauteng anliegenden Schnürstiefeln aus samtweichem und doch zähem Leder, und aus dem gleichen, nur etwas dünnerem Material bestanden auch die Hose und das weit geschnittene Hemd, das er darüber trug. Ein breiter Gürtel mit einer goldfarbenen Messingschnalle hielt beides zusammen, und über seinen Schultern hing ein schräggeschnittenes, an der längsten Stelle nicht einmal bis zum Gürtel reichendes Cape, ebenfalls aus Leder, aber von weinroter Farbe. Kim stand da wie vom Donner gerührt, während sich der Junge und der ihn begleitende Krankenpfleger langsam den Flur hinunterbewegten und schließlich in einem Zimmer ganz an seinem Ende verschwanden.
Unmöglich! dachte er, immer und immer wieder. Sein Herz und seine Lunge taten um die Wette weh, und er zitterte so heftig, als hätte er Schüttelfrost. Kims Gedanken drehten sich wie wild im Kreis, während er versuchte, eine Erklärung für das Unerklärliche zu finden.
Hinter ihm fiel eine Tür ins Schloß. Kim fuhr erschrocken zusammen und wich mit einer raschen Bewegung ins Treppenhaus zurück. Mit angehaltenem Atem preßte er sich gegen die Wand neben der Tür und lauschte auf die Schritte, die sich rasch näherten, zu seiner Erleichterung aber vorübergingen, ohne auch nur zu stocken, bis sie vollends verklangen. Kims Herz hämmerte immer noch wie wild, jetzt aber mehr vor Aufregung als vor Anstrengung.
Eine ganze Weile blieb er einfach so stehen und wartete, bis endlich wieder Schritte vom Ende des Korridors erklangen; diesmal nicht das harte Klack-Klack von vorhin, sondern die leisen, fast lautlosen Schritte von Turnschuhen, wie sie Krankenpfleger und Schwestern zu tragen pflegten. Kim nahm all seinen Mut zusammen und trat hervor. Der Pfleger, der den Jungen begleitet hatte, kam ihm entgegen. Er war allein, trug aber etwas in der rechten Hand, das Kim nach einigen Augenblicken als eine schmale Lederscheide erkannte. Zwei Schlaufen befanden sich daran, mit denen sie offensichtlich an einem Gürtel befestigt werden konnte. Der ebenfalls mit Leder umwickelte Griff eines schmalen Dolches lugte daraus hervor.
Der Mann blieb stehen und sah Kim fragend an. »Was tust du hier?« fragte er in nicht besonders freundlichem Tonfall. »Die Besuchszeit ist vorbei.«
»Ich weiß«, antwortete Kim, wobei er insgeheim selbst ein wenig über seine Kaltblütigkeit staunte. »Ich wollte auch nur meine Eltern abholen. Sie sind bei meinem Bruder. Er ist heute morgen operiert worden.«
Das Mißtrauen in den Augen des Pflegers schwand um keinen Deut. »In welchem Zimmer liegt er denn?« fragte er. »Sechshundertundneun«, antwortete Kim auf gut Glück. »Dann bist du eine Etage zu tief«, antwortete der Mann. »Das hier ist der fünfte Stock.« Er deutete auf den Aufzug. »Ich fahre nach oben. Du kannst mitkommen.«
Kim schüttelte den Kopf. »Lieber nicht«, antwortete er. »Ich mag keine Aufzüge. Ich bin einmal in einem steckengeblieben. Außerdem bin ich zu Fuß schneller. Vielen Dank.« Damit drehte er sich um, trat zum zweitenmal ins Treppenhaus hinaus und begann nach einem letzten Zögern tatsächlich die Treppe hinaufzusteigen.
Er hatte gerade den ersten Absatz hinter sich gebracht, als er hörte, wie unter ihm die Tür zum Treppenhaus aufgemacht wurde. Völlig hatte er das Mißtrauen des Mannes offenbar doch nicht zerstreut.
Kim blieb stehen und lauschte. Ein paar Sekunden vergingen, dann wurde die Tür wieder geschlossen, und nach einigen weiteren Augenblicken hörte er, wie sich der Lift summend in Bewegung setzte. Kim machte auf der Stelle kehrt und lief die Treppe wieder hinunter.
Ein allerletztes Mal versuchte ihn die innere Stimme seiner Vernunft zurückzuhalten, als er vor der Tür des Zimmers angekommen war, in dem der Junge sein mußte - was er hier tat, war völliger Wahnsinn. Wahrscheinlich war der Junge gar nicht allein in dem Zimmer, und selbst wenn, so konnte es bestenfalls einige Augenblicke dauern, bis jemand kam, um nach ihm zu sehen. Doch Kim ignorierte das lautlose Hüstern hinter seiner Stirn jetzt ebenso wie die vorhergehenden Male, kämpfte seine Angst nieder und drückte leise, aber entschlossen die Klinke herunter.
Das Zimmer war dunkel und still. Die Vorhänge waren zugezogen, so daß Kim die Gestalt des Jungen nur als dunklen Umriß auf dem Weiß der Bettwäsche erkennen konnte, und es schien so, als hätte er ausnahmsweise Glück - der Junge war tatsächlich allein.
Als Kim an das Bett herantrat, sah er, daß der Pfleger den Jungen ausgezogen und in ein weißes Nachthemd gehüllt hatte. Seine Kleider lagen ordentlich gefaltet auf einem Hocker auf der anderen Seite des Bettes, und der Inhalt seiner Taschen war auf dem metallenen Nachtschränkchen ausgebreitet; offensichtlich hatte der Pfleger nach irgendwelchen Ausweisen oder Papieren gesucht. Wenn dieser Junge wirklich der war, für den Kim ihn hielt, dann konnte der Pfleger lange suchen. Dort, wo der Junge herkam, kannte man so etwas wie Ausweise nicht.
Leise beugte sich Kim über das Bett und betrachtete das Gesicht des Fremden. Als Kim das Zimmer betreten hatte, war ihm, als schliefe der Junge, weil er so reglos dalag und nicht auf sein Erscheinen reagierte. Aber es stimmte nicht. Die Augen des Jungen standen weit auf und starrten die Decke an.
»Hallo«, flüsterte Kim.
Keine Reaktion. Im Gesicht des Jungen zuckte kein Muskel, und auch sein Blick blieb leer. Selbst, als sich Kim über das Bett beugte und sein Gesicht ganz dicht an das des anderen heranbrachte, schienen dessen dunkle Augen durch den Besucher hindurchzustarren. Kim war jetzt sicher, daß der Junge ihn nicht sah; ebensowenig, wie er den Krankenwagen gesehen hatte, der ihn um ein Haar überfahren hätte, oder einen der Männer, die ihn hierhergebracht hatten.
Trotzdem versuchte Kim noch einmal, den Jungen anzusprechen.
»Verstehst du mich?« fragte er. - Keine Antwort.
Kim biß sich auf die Unterlippe und warf einen hastigen Blick zur Tür, ehe er fortfuhr: »Ich weiß, wer du bist. Du kannst mir vertrauen. Das alles hier muß dich furchtbar erschrecken, aber du ... du mußt nicht so tun, als ob du schläfst. Ich weiß, wo du herkommst. Schickt dich Themistokles? Oder Prinz Priwinn?«