Beim Klang dieser beiden vertrauten Namen schien etwas im Blick des Jungen aufzuflammen und sofort wieder zu erlöschen. Kim hätte nicht beschwören können, ob es wirklich dagewesen war, oder ob er es nur gesehen hatte, weil er es sehen wollte. Der Junge war zwar offensichtlich bei Bewußtsein, nahm aber von seiner Umgebung, wie es schien, überhaupt nichts wahr.
Enttäuscht trat Kim wieder vom Bett zurück, richtete sich auf und wollte sich schon zur Tür wenden. Dann blieb er noch einmal stehen und betrachtete die Habseligkeiten, die auf dem Nachttisch und dem Hocker ausgebreitet waren. Rasch trat er hinzu und begann, den Inhalt der Taschen zu durchsuchen.
Er fand nichts, was ihm weiterhalf - der Junge hatte nichts weiter bei sich als eine zusammengerollte Schnur, an der ein Angelhaken befestigt war, zwei abgewetzte Feuersteine und eine winzige Flöte mit drei Löchern, die kaum so lang wie Kims kleiner Finger war. Kim fragte sich, welche Art von Musik man auf diesem Mini-Instrument wohl spielen konnte. Das Mundstück sah aus, als wäre es für Zwerge gemacht. Vielleicht war es das.
Kim wog die Flöte unschlüssig in der Hand, verbarg sie dann in der geschlossenen Faust und wandte sich den Kleidern auf dem Hocker zu. Trotz alledem, was er bisher gesehen und gefunden hatte, konnte es ein Zufall sein, ein sehr, sehr unwahrscheinlicher Zufall - aber es war möglich. Was Kim brauchte, war indes ein Beweis.
Er fand ihn, kaum daß er sich den Kleidern des Jungen zugewandt hatte.
Hemd, Hose und Stiefel des Jungen bestanden aus jenem feinen und doch fast unzerreißbaren Leder, wie er es so gut in Erinnerung hatte. Die Gürtelschnalle war aus glänzendem Messing gearbeitet. Und als Kim sie in die Hand nahm, um das Motiv zu betrachten, das in feiner Kunstschmiedearbeit aus dem Metall herausziseliert worden war, schien es plötzlich, als bekäme er einen Eimer eiskaltes Wasser in den Nacken geschüttet: Auf der Gürtelschnalle war der Kopf eines Pferdes zu sehen, der sich aus einem halbmondförmigen Muster herausstreckte. Und bei genauerem Hinsehen entpuppte es sich als ein verschlungenes »C«. Kim starrte die Gürtelschnalle eine geschlagene Minute lang fassungslos an. Da flog hinter ihm die Tür auf, und eine ganze Schar von Spitalsbediensteten stürmte in das Zimmer, allen voran der Pfleger, dem er beim Aufzug begegnet war, und die bebrillte Schwester vom Empfang.
»Was tust du denn hier?« rief eine zornige Stimme. Eine Hand ergriff ihn an der Schulter und zerrte ihn unsanft von den Kleidern fort, und eine andere entwand ihm die Hose und warf sie auf den Hocker zurück. Jemand begann, an seiner Schulter zu rütteln, und die Stimmen redeten immer lauter auf ihn ein: »Wer bist du? Was willst du hier?« Kim stand ganz still. Er leistete keinen Widerstand, als er am Arm ergriffen und fast mit Gewalt aus dem Zimmer gezerrt wurde, aber er starrte bis zum letzten Moment auf die Gürtelschnalle des Jungen, die in der schwachen Helligkeit des Krankenzimmers wie unter einem inneren Feuer zu glühen schien; auf sie und das Emblem, das sie zeigte. Das Muster war nicht einfach nur ein hübsches Bild. Es war ein Wappen.
Und er hatte dieses Wappen schon gesehen - unzählige Male sogar. Es war das Wappen von Caivallon, Heimat der stolzen Steppenreiter von Märchenmond.
II
Kim war nicht ganz sicher, ob es wirklich ein Glück war, daß sein Vater an diesem Abend ganz besonders spät von der Arbeit nach Hause kam. Zwar verblieb ihm auf diese Weise noch eine kleine Gnadenfrist bis zu dem zu erwartenden Krach, aber auch diese Zeit war nicht gerade angenehm.
Dabei erinnerte er sich kaum mehr an das, was später im Krankenhaus geschehen war. Der Pfleger, der ihn aus dem Zimmer gezerrt hatte, hatte ihn reichlich unsanft ins Büro des Chefarztes gestoßen, und das einzige, woran er sich wirklich besann, war seine Mutter, die irgendwann völlig außer Atem aufgetaucht war und sich mit energischen Worten Gehör verschaffte und ihren Sohn erst einmal in Schutz genommen hatte - allerdings mit einem Blick auf Kim, der kommendes Unheil versprach, und den ihr Sohn nur zu gut kannte. Aber selbst das hatte ihn kaum gestört. Seine Gedanken waren unentwegt um die Gürtelschnalle des namenlosen Jungen gekreist, und das, was sie bedeutete. Wenn alles andere noch Zufall gewesen sein mochte - das nicht mehr. Es gab keinen Zweifel, der Junge war ein Steppenreiter aus Caivallon, der großen Grasebene im Herzen Märchenmonds - eines Landes, das es nach den Begriffen der meisten Menschen, die Kim kannte, gar nicht gab, und dessen Bewohner hier in dieser Welt nicht leben konnten.
Später, als sich Kim ein wenig beruhigt und wieder zu sich selbst gefunden hatte, erinnerte er sich, daß die große Aufregung schließlich den Chefarzt selbst aufmerksam gemacht hatte - und das war ein Glück gewesen. Professor Halserburg kannte die Familie Larssen recht gut, schließlich behandelte er Rebekka seit geraumer Zeit. Und es war einzig und allein seiner Fürsprache (und der von Kims Mutter, die mit wahren Engelszungen redete) zu verdanken gewesen, daß die Krankenhausverwaltung am Ende darauf verzichtet hatte, die Polizei zu rufen.
Kim verstand die ganze Aufregung nicht - was hatte er schon getan, außer ein Zimmer zu betreten, in dem er eigentlich nichts zu suchen hatte, und sich die Kleidung eines Jungen anzusehen?
Die Angestellten des Krankenhauses schienen das aber anders zu sehen. Ihre Gesichter standen auf Sturm, als es Kims Mutter endlich gelungen war, den Professor soweit zu beruhigen, daß er sie gehen ließ. Vor allem die Schwester mit der Brille, die ihm am Empfang die Auskunft gegeben hatte, blickte Kim voller unverhohlenem Zorn nach.
Zumindest ein Problem war gelöst gewesen, als sie endlich das Gelände der Universitätsklinik verließen - der Verkehrsstau hatte sich gelegt. Am Straßenrand stand ein offener roter Sportwagen mit zerknautschter Kühlerhaube und ein Stück entfernt ein Streifenwagen der Polizei mit laufendem Blaulicht, aber ausgeschalteter Sirene. Hier und da standen noch Passanten in kleinen Gruppen herum und diskutierten; meistens sehr aufgeregt. Kim verstand nur Wortfetzen. Aber aus dem wenigen, was er auffing, schloß er, daß noch irgend etwas passiert sein mußte, seit er ins Krankenhaus gelaufen war.
Doch auch das hatte ihn nicht die Bohne interessiert. Es war jetzt fast so geworden, wie Tante Birgit zuvor den fremden Jungen beschrieben hatte - als träume er. Kirns Gedanken kreisten wild, und er stellte sich immer und immer wieder die eine Frage: Was war in Märchenmondgeschehen? Was ging dort vor, daß er Themistokles' Gesicht im Spiegel sah und ein Steppenreiter aus Caivallon hier auftauchte? Während Tante Birgit den Wagen über die wie üblich verstopfte Rheinbrücke nach Hause gelenkt hatte, versuchte Kims Mutter, ein Gespräch zu beginnen - natürlich wollte sie wissen, was um alles in der Welt in ihn gefahren war. Was hatte sein seltsames Benehmen zu bedeuten? Und, und, und ...
Kim beantwortete keine ihrer Fragen. Was hätte er auch sagen sollen? Daß er einen Zauberer gesehen hatte und einen Jungen aus einer Welt, die nur in seinen Träumen existierte, wo er, Kim, auf dem Rücken eines Drachen geflogen war und gewaltige Schlachten geschlagen hatte? Lächerlich. Wenn er das erzählte, dann würde er sich schneller im Krankenhaus wiederfinden, als ihm lieb war - und zwar in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie.
Kims Blick hatte ein paarmal Rebekkas Gesicht gestreift, während er tapfer versuchte, so zu tun, als wäre er mit plötzlicher Taubheit geschlagen und könnte die Worte seiner Mutter gar nicht hören. Rebekka aber war seinem Blick ausgewichen. Von allen Menschen auf der Welt war sie die einzige, mit der er über sein Erlebnis sprechen konnte; schließlich waren sie damals zusammen in Märchenmond gewesen. Aber Becky war noch klein, und trotz ihres gemeinsam überstandenen Abenteuers war ihr Verhältnis zueinander so, wie es nun einmal meistens ist: nur allzu oft wie Hund und Katz. Davon ganz abgesehen - selbst wenn er mit Becky über Themistokles und den jungen Steppenreiter hätte reden wollen, wäre das im Auto unmöglich gewesen, unter den Augen (und vor allem Ohren!) seiner Mutter und seiner Tante! Er mußte warten, bis sie heimkamen und ungestört waren.