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Daheim waren sie dann ziemlich rasch. Aber ungestört waren sie weniger.

Kim war der erste gewesen, der ausgestiegen war, kaum daß Tante Birgit den Wagen vor der Einfahrt geparkt hatte. Eilig hatte er die Tür aufgeschlossen und wollte sofort nach oben in sein Zimmer gehen. Aber seine Mutter hatte ihn mit scharfer Stimme zurückgerufen und auf den großen Eßzimmertisch gedeutet: der Ort, an dem traditionsgemäß im Hause Larssen alle Probleme besprochen, alle Konflikte geklärt und, falls notwendig, auch Urteilssprüche gefällt wurden. Kim hatte das sichere Gefühl, daß es heute eindeutig um ein Urteil gehen würde ...

Aber er hatte nicht widersprochen, sondern sich klaglos und mit steinernem Gesicht auf einen Stuhl sinken lassen. Hier saß er nun und harrte der Dinge, die da kamen. Nur einen kleinen Moment lang versuchte er, sich eine Ausrede für sein Verhalten zurechtzulegen, gab dieses Unterfangen aber gleich wieder auf. Was immer er sagen konnte, hätte zumindest genauso lächerlich geklungen wie die Wahrheit. Das zu erwartende Standgericht ließ noch eine Weile auf sich warten. Seine Mutter brachte Rebekka nach oben in ihr Zimmer, während sich Tante Birgit in die Küche verkrümelte und Kaffee aufsetzte. Dann und wann rauschte sie durch den Raum und warf ihrem Neffen unheilvolle Blicke zu. Der saß wie ein armer Sünder auf der Anklagebank und spielte nervös mit den Fingern. Schließlich kam Kims Mutter zurück und setzte sich. Tante Birgit klapperte mit einem Tablett herbei, darauf standen zwei Tassen Kaffee, eine Zuckerschale und ein Glas heißer Milch mit Honig (igitt!). Obwohl sich Kim allein beim Anblick schon der Magen herumdrehte, griff er nach dem Glas Milch und nahm einen Riesenschluck; nicht weil er etwa Durst hatte, sondern nur, um gutes Wetter bei seiner Tante zu machen, die eine Gesundheitsfanatikerin war - einen Fehler hatte eben jeder.

»Also?« begann seine Mutter das Gespräch.

»Also - was?« Kim stellte sich dumm, was ihm - zumindest, wenn man seiner Schwester Glauben schenkte - sowieso nicht sehr schwer fiel.

Der Gesichtsausdruck seiner Mutter verfinsterte sich. »Du weißt ganz genau, was ich meine«, sagte sie. »Was war los? Wieso bist du in dieses Zimmer eingebrochen?«

»Ich bin nicht eingebrochen«, verteidigte sich Kim empört. »Ich -«

»Schon gut«, unterbrach ihn seine Mutter. »Die Frau von der Krankenhausverwaltung hat jedenfalls genau dieses Wort benutzt.«

Kim blickte seine Mutter verblüfft an. Die Krankenschwester mit der Brille? Er hatte gar nicht mitbekommen, daß sie so starke Ausdrücke gebraucht hatte. Rein gar nichts hatte er mitbekommen, denn er war in Gedanken weit fort gewesen. Eine ganze Welt weit fort, um genau zu sein. »Wir wollen dir doch nichts«, fuhr seine Mutter fort. »Im Gegenteil - ich kenne dich gut genug, um zu wissen, daß du so etwas nicht grundlos machst. Schließlich bist du kein kleines Kind mehr, sondern schon halb erwachsen.«

»Und dieser Grund würde uns eben interessieren«, fügte seine Tante hinzu. Sie nippte an ihrem Kaffee. »Wenn deine Mutter den Professor nicht so gut gekannt hätte, dann hättet ihr jetzt jede Menge Ärger am Hals, ist dir das klar?« Kim nickte, während er Mühe hatte, ein hysterisches Auflachen zu unterdrücken. Jede Menge Ärger? Seine bedauernswerte Tante hatte ja keine Ahnung, wieviel Ärger er wahrscheinlich schon hatte.

»Was wolltest du von diesem Jungen?« bohrte Mutter weiter. »Der Pfleger, der dich überrascht hat, behauptet steif und fest, du hättest versucht, seine Sachen zu stehlen.«

»Blödsinn«, entfuhr es Kim.

Mutter nickte. »Genau das habe ich auch gesagt. Und der Professor hat mir geglaubt - Gott sei Dank. Wenn nicht, säßen wir jetzt vielleicht auf einer Polizeiwache. Trotzdem bleibt der Krankenpfleger dabei, daß du die Sachen in der Hand hattest, als er hereinkam. Stimmt das?«

Kim nickte widerstrebend. Außer dem Pfleger hatten ihn ungefähr ein halbes Dutzend anderer Leute mit dem Gürtel des Jungen in der Hand überrascht. Es hatte sehr wenig Sinn, das abzustreiten.

»Und warum?«

»Ich wollte sie mir ... ansehen«, sagte Kim ausweichend. »Ja, aber weshalb denn?«

»Ich ... weiß es nicht«, murmelte Kim. »Sie sahen so komisch aus. Und ich dachte, ich ... ich würde den Jungen kennen.«

Zwischen Tante Birgits Augenbrauen entstand eine steile, tief eingegrabene Falte, und auch seine Mutter sah ihn mit neu erwachendem Mißtrauen an. »Woher?«

»Gar nicht«, antwortete Kim hastig. »Ich habe mich getäuscht. Ich dachte eben, ich kenne ihn.«

»Und das fällt dir ein, zehn Minuten nachdem du ihn gesehen hast?« fragte seine Tante. »So plötzlich, daß du einfach aufspringst und wie von Hunden gehetzt losrast?« Sie wiegte den Kopf.

Nein, die einzige Ausrede, die Kim eingefallen war, konnte niemanden hier überzeugen.

»Also?« versuchte es seine Mutter noch einmal.

Diesmal blieb Kim sturnm, und nach einer Weile schien auch seine Mutter einzusehen, daß sie zumindest im Moment nicht weiterkommen würde, denn sie schüttelte mit einem tiefen Seufzer den Kopf, trank einen Schluck Kaffee und sagte mit einer entsprechenden Handbewegung: »Gut, lassen wir das für den Moment. Wir sind alle nervös. Geh auf dein Zimmer und warte dort. Vielleicht erzählst du deinem Vater mehr.«

So schnell, wie er gerade noch konnte, ohne zu rennen, ging Kim die Treppe hinauf, warf die Tür hinter sich zu und lehnte sich mit geschlossenen Augen dagegen. Sein Herz begann wieder zu hämmern. Es war, als spürte er den wirklichen Schrecken erst jetzt, als er endlich allein war. Statt sich zu beruhigen, begannen seine Hände wieder zu zittern, und er sah immer wieder das bleiche Gesicht des Jungen vor sich - und die goldfarbene Gürtelschnalle mit dem Wappen von Caivallon. Außerdem hatte der Krankenpfleger einen Dolch in der Hand gehabt, als er das Krankenzimmer verließ. Zweifellos die Waffe des Jungen. Dolch, Schwert und Bogen waren die traditionellen Waffen der Steppenreiter in Märchenmond.

Aber das ist unmöglich! versuchte Kim ein letztes Mal, der Stimme seiner Vernunft Gehör zu verleihen. Wenn dieser Junge hier war, dann bedeutete das, daß ... irgend etwas Unvorstellbares geschehen war.

Dann fiel ihm das Gesicht wieder ein, das er in der Scheibe gesehen hatte.

Kim war jetzt völlig sicher, daß es keine Einbildung gewesen war. Der Mann, den er gesehen hatte, war Themistokles gewesen, der Zauberer von Märchenmond. Sein Gesicht war nicht gütig gewesen, voller uraltem Wissen und Sanftheit wie sonst, sondern eine Maske des Entsetzens, das Antlitz eines Menschen, der etwas Schlimmeres gesehen hatte als den Tod. Ungleich Schlimmeres.

Etwas drückte gegen sein rechtes Bein. Kim runzelte die Stirn, griff in die Hosentasche und riß verblüfft die Augen auf, als er sah, was er da aus der Tasche zog.

Es war ein winziges rundes Stück Holz mit drei Löchern, kaum größer als Nadelstiche - die Flöte, die er unter den Habseligkeiten des Jungen gefunden hatte. Er konnte sich gar nicht daran erinnern, sie eingesteckt zu haben - offensichtlich hatte er sie ganz instinktiv in der Tasche verschwinden lassen, als der Pfleger hereingestürmt war. Ein eiskalter Schauer überlief ihn. Unvorstellbar, wenn der Mann ihn durchsucht und die Flöte gefunden hätte! Kein Mensch hätte ihm dann noch geglaubt, daß er nicht in das Krankenzimmer gekommen war, um etwas zu stehlen! Schuldbewußt ließ Kim die Flöte wieder in der Tasche verschwinden, löste sich von seinem Platz, schloß die Tür ab, ging zum Bett und ließ sich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen darauffallen. Ohne, daß er sich dagegen wehren konnte, kehrten seine Gedanken zurück in das Land der Träume.

Märchenmond ...

Es war so lange her, auch wenn es ihm manchmal vorkam, als wäre es erst gestern gewesen. Er hatte sich damit abgefunden, daß er wohl nie mehr in das Reich der Phantasie würde zurückkehren können. Natürlich war in ihm stets ein winziger, unwahrscheinlicher Hoffnungsschimmer gewesen, noch einmal den Weg dorthin zu finden, und oft hatte er davon geträumt. Aber im Grunde hatte er gewußt, daß das unmöglich war.