Jetzt schien es, als gäbe es einen Weg, nicht unbedingt für ihn, sondern umgekehrt für die Bewohner jener Welt hierher. Aus irgendeinem Grund hatte der junge Steppenreiter den Schritt in die Welt der Menschen getan, aber es schien, als hätte er einen furchtbaren Preis dafür bezahlt. Und aus dem gleichen Grund - den Kim nicht einmal zu erahnen vermochte, doch er war sicher, daß er schrecklich war - hatte Themistokles versucht, Verbindung mit ihm aufzunehmen. Warum? Um ihn zu warnen?
Oder um ... seine Hilfe zu erbitten?
Themistokles war schon einmal hiergewesen, um Kim zu Hilfe zu rufen, auch wenn sich später herausgestellt hatte, daß es eher die Bewohner von Märchenmond waren, die Kim halfen, als umgekehrt. Auch damals war es Themistokles nicht leichtgefallen, Kim zu rufen, aber er hatte es geschafft mit seinen Zauberkräften, und er hatte Kim den Weg hinüber über die Schattenberge gewiesen, wo er - Der Gedanke elektrisierte Kim regelrecht.
Mit einem Satz sprang er vom Bett hoch und durchquerte das Zimmer. Seine Knie bebten vor Aufregung, als er vor dem kleinen Regal stehenblieb, auf dem er seine Science Fiction- und Fantasy-Schmöker sowie seine Modellsammlung untergebracht hatte. Säuberlich aufgereiht vor den zerlesenen Taschenbüchern standen das Modell einer fliegenden Untertasse (von Kim selbst aus zwei echten Untertassen, über deren Verbleib seine Mutter heute noch rätselte, zusammengebastelt), ein fünfzehn Zentimeter großer, goldener Drache aus Zinn, zwei Perry-Rhodan-Flugpanzer - und die Viper. Kims Hände zitterten so heftig, daß er das Modell fast fallen gelassen hätte, als er den Viper-Jäger von seiner durchsichtigen Plastikhalterung hob.
Das dreißig Zentimeter große, pfeilflügelige Modell war viel mehr als ein Spielzeug. Die Viper war das Schiff, in dem er in seiner Phantasie so oft gegen die Cylonen und die Maahks und Cantaro gekämpft hatte; in dem er in seinen Träumen die Tiefen der Galaxis erforscht und waghalsige Rettungsunternehmen von den Oberflächen sturmgepeitschter Höllenplaneten durchgeführt hatte.
Und es war das Schiff, das ihn nach Märchenmond gebracht hatte.
Lange Zeit stand Kim einfach da und blickte das Modellraumschiff an. Und während er das tat, reifte ein Entschluß in ihm. Er wußte, daß es völlig verrückt und praktisch aussichtslos war - aber er hatte keine Wahl. Themistokles und vielleicht ganz Märchenmond waren in Gefahr, das wußte er jetzt, und sie brauchten Hilfe. Kim war vielleicht der einzige Mensch auf dieser Welt, der ihnen helfen konnte. Er überzeugte sich davon, daß seine Zimmertür auch sicher verschlossen war, trug das Modell zum Bett zurück und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf die Decke. Seine Augen wurden schmal, und nach und nach erschienen feine Schweißperlen auf seiner Stirn, während er all seine Gedanken auf diesen einen Wunsch konzentrierte: wieder im Cockpit der Viper zu sitzen und noch einmal den Weg nach Märchenmond zu finden. Er konnte es. Er hatte es schon einmal getan, und es würde ihm wieder gelingen, wenn er es nur wirklich wollte.
Und während er so dasaß, schien es im Zimmer dunkler zu werden. Kim merkte es nicht einmal; es war, als schrumpfe die Welt auf einen winzigen hellen Fleck im Zentrum eines gewaltigen Meeres aus Dunkelheit, in dem es nur noch ihn und die Viper gab, und schließlich nur noch die Viper. Und dann war es ihm, als begänne das Raumschiff langsam zu wachsen ...
Es war dunkel rings um ihn herum, als Kim erwachte. Einzig ein umheimlicher, grünlicher Schimmer spendete etwas Licht. Wie ein düsterer Zauber hing er in der Luft und veränderte die Umrisse der Dinge auf eine sehr unangenehme, aber mit Worten kaum zu beschreibende Art. Etwas stach schmerzhaft durch Kims Hemd und bohrte sich tief in seine Brust. Sein Nacken und die Schultern taten so weh, daß Kim es im ersten Moment nicht einmal wagte, sich zu bewegen. Er hatte es geschafft! Das war sein erster Gedanke. Er war wieder da! Es war genau wie damals; zwar konnte sich Kim an den Flug diesmal nicht erinnern, aber er schien genau wie beim erstenmal mit der Viper über einem unwegsamen Teil des Landes abgestürzt zu sein, denn der weiche Boden unter ihm mußte der Sumpf jenseits des Schattengebirges sein. Und es war die Dunkelheit, die stets hier in diesen finsteren Wäldern herrschte, nur durchbrochen vom grünen und blauen Leuchten kalt verbrennenden Sumpfgases. Was Kim so schmerzhaft in die Brust stach, das waren zweifellos die Trümmer der Viper, die ihn auch diesmal wieder getreulich hierher gebracht hatte, ehe ihre Technik versagte - in einem Land, in dem Technik sowenig funktionierte wie Magie in der täglichen Welt.
Mit zusammengebissenen Zähnen, den Schmerz in Nacken und Schultern tapfer verbeißend, stemmte sich Kim in die Höhe, preßte die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und sah sich um, jeden Moment darauf gefaßt, die gigantische Gestalt eines schwarzen Ritters aus der Dunkelheit auftauchen zu sehen. Diesmal war er vorbereitet. Er würde nicht noch einmal auf Baron Karts Tricks hereinfallen, oder auf Boraas' Lügen.
Doch aus der Dunkelheit tauchte weder ein schwarzer Ritter noch der finstere Boraas auf, und im Moment hatte Kim nichts anderes zu tun, als einfach dazusitzen und sich unbeschreiblich dämlich vorzukommen.
Die Umrisse der Bäume rings um ihn herum waren nichts anderes als seine Möbel, so wie die Dunkelheit des Schattenwaldes die seines eigenen Zimmers war. Statt auf sumpfigem Boden lag Kim auf dem Bett, und sein Nacken schmerzte, weil er in einer unmöglichen Haltung eingeschlafen war. Er mußte lange dagelegen sein, wie die Dunkelheit vor den Fenstern bewies. Und was das unheimliche Zauberlicht anging, so stammte es vom Monitor seines Home-Computers, der eingeschaltet war und die übliche grüne Leuchtschrift zeigte. Nur in einem Punkt hatte Kim recht gehabt: Das Stechen in seiner Brust kam tatsächlich von den Trümmern der Viper. Er war im Schlaf nach vorne gesunken und hatte das Plastikmodell mit seinem Körpergewicht zermalmt.
Lange saß Kim einfach da und starrte das an, was von dem kunstvoll zusammengebauten Modell übriggeblieben war - ein Haufen scharfkantiger Kunststoffteile, von denen der Lack abzuplatzen begann. Das Modell war nicht einfach nur zerbrochen - es war völlig zerstört, als wäre ein Riese darüber hinweggestampft und hätte mit dem Absatz darauf herumgetrampelt, damit auch ja kein Stück mehr ganz bliebe. Kims Augen füllten sich mit Tränen. Die Viper hatte ihn einst in jene fremde Welt gebracht, ihr Verlust schmerzte ihn wie der eines guten Freundes. Zitternd nahm er zwei der wenigen größeren Bruchstücke in die Hand und versuchte, sie im schwachen Schein des Computerbildschirmes zusammenzusetzen - was natürlich völlig unmöglich war. Neben den drei oder vier größeren Trümmern war das Modell in unzählige kleine Splitter zerborsten, die noch dazu in sich verbogen und verzogen waren. Selbst wenn Kim dazu in der Lage gewesen wäre (was er nicht war) - er würde Wochen, wenn nicht Monate brauchen, um aus diesem Chaos wieder etwas zu machen, was der ursprünglichen Viper auch nur ähnelte. Nach einer Weile stand er auf, zog die Nase hoch und fuhr sich mit dem Unterarm über das Gesicht, um die Tränen fortzuwischen. Fast behutsam sammelte er die Plastikreste ein, trug sie zum Papierkorb - und trat dann wieder zurück. Nein - er brachte es einfach nicht fertig, das Wrack in den Müll zu werfen. Statt dessen legte er das, was von dem Modell übrig war, sorgsam auf seinen Schreibtisch und ging noch einmal zum Bett zurück, um auch die letzten Fitzelchen einzusammeln.
Das war schwierig, denn das Zimmer war fast vollständig dunkel, und der bleiche Schein des Monitors reichte allenfalls, Umrisse und Schemen zu erkennen. Deshalb ging Kim zurück zur Tür, streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus - und zögerte erneut.