Wolfgang und Heike Hohlbein
MÄRCHENMONDS ERBEN
Eine fantastische Geschichte
Ueberreuter
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Hohlbein, Wolfgang:
Märchenmonds Erben : eine fantastische Geschichte
Wolfgang u. Heike Hohlbein.
Wien : Ueberreuter, 1998
ISBN 3-8000-2558-2
J 2372/1
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Umschlag von Jörg Huber
Copyright © 1998 by Verlag Carl Ueberreuter, Wien
Druck: Ueberreuter Print
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Kim beobachtete eine Gruppe junger Punker, die auf der anderen Straßenseite entlangschlenderte und offensichtlich auf Streit aus war.
Die Burschen fielen ihm schon seit einer geraumen Weile auf, schon seit sie die Imbissbude an der Ecke verlassen hatten und immer heftiger herumstänkerten.
Angefangen hatte es ganz harmlos - soweit man es als harmlos bezeichnen konnte, wenn ein halbes Dutzend Halbwüchsiger, von denen einige schon fast so groß wie Erwachsene waren, mit grün oder orange gefärbtem Haar, nietenbesetzten Lederjacken, auf deren Rücken Totenköpfe aufgenäht waren, sich zusammenrottete und anfing, ihre Umwelt zu terrorisieren.
Zuerst hatte einer von ihnen seine leere Cola-Dose auf den Bürgersteig geworfen; ganz gezielt neben den Papierkorb, der nun wirklich unübersehbar neben dem Eingang der Imbissbude angebracht war. Natürlich waren alle anderen seinem Beispiel sofort begeistert gefolgt.
Dann hatten sie sich eine Weile damit amüsiert, die leeren Getränkedosen über den Gehsteig zu kicken, sodass die Passanten, die das Pech hatten, ausgerechnet in diesem Moment dort entlanggehen zu wollen, ihnen mit hastigen Schritten ausweichen mussten und ein paar Mal sogar an Knöchel oder Waden getroffen wurden.
Bald war auch dieses Spiel den Punkern langweilig geworden. Vielleicht zwei oder drei Minuten hatten sie einfach tatenlos herumgelungert, ohne dass irgendetwas geschehen wäre - abgesehen davon vielleicht, dass sich der Gehweg auf dieser Straßenseite zusehends leerte. Offensichtlich wagten es immer weniger sich den gefährlich aussehenden Burschen auch nur zu nähern. Einige ältere Männer und Frauen hatten sogar die Straßenseite gewechselt, als sie den bunten Haufen erblickten. Mittlerweile hatten die Burschen entdeckt, wie viel Spaß es machte, leere Cola- und Bierdosen in flachem Winkel auf die Straße hinauszutreten; nicht hoch genug um einen Wagen zu beschädigen, aber schnell genug um mehr als einem Fahrer einen gehörigen Schrecken einzujagen. Die meisten fuhren zwar einfach über die bunt bedruckten Blechdosen hinweg, aber es gab auch genug, die erschrocken auf die Bremse traten oder hastig auswichen, was jedes Mal ein wütendes Hupen zur Folge hatte.
»Wenn sie so weitermachen, dann wird es noch einen Unfall geben.« Sein Vater zog die Wagentür hinter sich zu, steckte den Zündschlüssel ins Schloss und drehte ihn halb herum, ohne den Motor jedoch zu starten. Stattdessen blickte er weiter stirnrunzelnd zu den Punkern hin.
Kim hatte nicht einmal bemerkt, dass er in den Wagen gestiegen war, und war ein wenig erschrocken, als er die Stimme seines Vaters so unversehens neben sich hörte.
»Ich frage mich nur, warum niemand etwas tut«, sagte er. Was die Burschen da drüben trieben, war in ihren Augen vielleicht nicht mehr als ein etwas großer Scherz, der aber sehr schnell ernste Folgen nach sich ziehen konnte.
»Weil die Leute Angst vor ihnen haben.« Sein Vater schüttelte den Kopf und startete den Motor nun doch. Er fuhr aber immer noch nicht los. Der Verkehr war zu dicht, und obwohl er den Blinker eingeschaltet hatte, machte keiner der vorbeifahrenden Wagen auch nur den Versuch, anzuhalten und ihn aus der Parklücke ausscheren zu lassen. Kim, der nun abwechselnd die Punker und das Gesicht seines Vaters betrachtete, hatte den sicheren Eindruck, dass dieser sich fast mehr darüber ärgerte als über das Benehmen der Jungen.
Trotzdem erkannte er, dass sein Vater durchaus Recht hatte. Der Besitzer der Imbissbude, in der die Punker gegessen hatten, war hinter der Scheibe seines Geschäfts erschienen und blickte zu ihnen hin. In einiger Entfernung waren zwei alte Frauen und ein junger Mann stehen geblieben und debattierten heftig. Die Gesten, die ihre Worte begleiteten, ließen keinen Zweifel daran aufkommen, worüber sie sprachen. Allerdings tat niemand auch nur das Geringste, dem Treiben der Punker-Clique Einhalt zu gebieten.
»Und warum unternehmen wir nichts?«, fragte Kim.
Sein Vater nahm den Gang wieder heraus und sah ihn auf eine Weise an, die Kim ganz nervös machte. »Warum fängst du nicht schon einmal damit an?«, fragte er.
Kim war nun vollends verwirrt. »Ich?«
»Es war dein Vorschlag, oder?«, erwiderte sein Vater. »Es ist immer leicht, anderen zu sagen, was sie tun sollen.«
Es verging ein Moment, bis er wirklich begriff, was sein Vater mit diesen Worten sagen wollte. Kim war verblüfft. Er war aus dem Alter heraus, in dem die Kinder noch glaubten, dass ihre Väter einfach alles können und vor nichts auf der Welt Angst hatten - aber er wusste auch, dass sein Vater alles andere als ein Feigling war. Wenn er sich entschied, sich mit dem Haufen dort drüben nicht anzulegen, dann wahrscheinlich nicht, weil er Angst vor den Burschen hatte.
»Warum rufst du dann nicht wenigstens die Polizei?«, fragte Kim mit einer Kopfbewegung auf das Telefon am Armaturenbrett des Wagens.
»Weil ich nicht glaube, dass es nötig ist«, sagte sein Vater. »Siehst du? Ich glaube, sie verlieren bereits das Interesse an ihrem Spiel.«
Tatsächlich hörten die Burschen auf, leere Getränkedosen und anderen Abfall auf die Straße hinauszuschießen, obwohl ihnen die Munition noch lange nicht ausgegangen war. Einige Augenblicke lang sahen sie sich nur noch unschlüssig um, ganz offensichtlich auf der Suche nach jemand anderem, den sie provozieren konnten. Als sie niemanden fanden, drehten sie sich einer nach dem anderen herum und trollten sich.
»Woher hast du das gewusst?«, fragte Kim verblüfft.
Sein Vater blickte kurz in den Rückspiegel und fuhr dann los. Diesmal hatte er offensichtlich keine Schwierigkeiten, eine Lücke im Verkehr zu finden.
»Weil ich auch einmal so war wie sie«, antwortete sein Vater lächelnd.
»Wie bitte?« Kim riss ungläubig die Augen auf.
»Natürlich nicht genauso«, fuhr sein Vater fort. »Ich meine, ich hatte nicht so eine verrückte Frisur und wir haben keine zwei Zentner schweren Lederjacken und Ketten getragen.«
»Und auch keine Bomberjacken und Springerstiefel«, vermutete Kim. Allmählich erwachte in ihm der Verdacht, dass sein Vater ihn auf den Arm nahm - auch wenn er sich beim besten Willen nicht erklären konnte, warum.
»Und auch keine Bomberjacken und Springerstiefel«, bestätigte sein Vater. »Und trotzdem war der Unterschied gar nicht so groß, wie du vielleicht glaubst. Ich meine: Wir haben damals natürlich keine Leute angepöbelt, oder uns einen Spaß daraus gemacht, uns an Schwächeren auszulassen. Ich glaube nur, dass es heutzutage härter geworden ist. Manchmal entschieden zu hart. Aber das Prinzip ist dasselbe. Auch wir haben uns unseren Spaß daraus gemacht, unsere Eltern zu provozieren.«
»Du?«, fragte Kim ungläubig. Seine Großeltern kamen nicht oft zu Besuch, weil sie in einer sehr weit entfernten Stadt lebten, aber er wusste, dass sein Vater ein ausgezeichnetes Verhältnis zu ihnen hatte. »Das kann ich mir nicht vorstellen!«
Sein Vater lachte. »Du hättest mal meinen Vater hören sollen, als ich mich das erste Mal geweigert habe zum Frisör zu gehen und als ich mit Schlaghosen und einer dieser unmöglichen Fellwesten nach Hause kam. Mein Gott, war das ein Krach!«