»Dann tu das«, bat Kim.
Die Elfe flatterte gehorsam davon. Der Drache versuchte den Kopf zu heben um ihr nachzublicken, doch seine Kraft reichte dazu nicht aus. Stöhnend ließ er den Kopf wieder sinken und sah Kim an.
»Warum tust du das?«, fragte er. »Wir sind Feinde!«
»Nein«, sagte Kim. »Das sind wir nicht. Genau das wollte ich dir ja die ganze Zeit über sagen. Wir müssen keine Feinde sein.«
»Du bist ein Mensch«, antwortete der Drache. »Alle Menschen hassen Drachen - oder fürchten sie, was auf dasselbe hinausläuft.«
»Nicht alle«, beharrte Kim. »Einer meiner besten Freunde ist ein Drache. Rangarig, der Golddrache aus Gorywynn. Hast du schon einmal von ihm gehört?«
»Ob ich schon einmal von Rangarig gehört habe? Was für eine Frage.« Der Drache schwieg einen Moment, dann fuhr er leiser und in verändertem Ton fort: »Jetzt weiß ich, wer du bist. Und ich hätte dich ohne zu zögern getötet!«
»Du hast es ja nicht getan«, sagte Kim. »Und es spielt auch keine Rolle mehr. Der Kampf ist vorbei.«
»Es scheint wohl wahr zu sein, was man sich über dich erzählt, kleiner Held«, sagte der Drache. »Es ist mir eine Ehre, dich vor meinem Tode noch kennen gelernt zu haben. Mit mir geht es zu Ende.«
»Ich weiß«, sagte Kim. Plötzlich war ein bitterer Kloß in seinem Hals und er musste ein paar Mal schlucken. Obwohl dieses Wesen noch vor wenigen Minuten versucht hatte ihn und seine Freunde zu töten, verspürte er doch nicht den mindesten Groll. Alles, was er empfand, war ein tiefes, ehrliches Mitleid. »Und es tut mir Leid.«
»Das muss es nicht«, sagte der Drache. »Es ist gut so. Ich bin alt. Sehr alt, selbst für einen Drachen. Ein Jahrhundert mehr oder weniger in den finsteren Höhlen der Zwerge macht keinen Unterschied. Ich fühle mich geehrt dich kennen gelernt zu haben.« Er schloss die Augen. Seine Stimme wurde leiser und sank schließlich zu einem Flüstern herab. »Wenn du Rangarig triffst, dann grüße ihn von mir.«
Und damit starb er.
Es ging ganz schnell und auf sonderbare Weise undramatisch. Kim konnte spüren, wie sein gewaltiges Herz aufhörte zu schlagen. Seinem letzten Atemzug folgte kein weiterer mehr und plötzlich wurde es still, unheimlich still. Das Heulen des Sturmes hatte aufgehört. Unter ihren Füßen stürzten keine Höhlen mehr zusammen.
Für ein paar Sekunden musste Kim mit aller Macht gegen die Tränen ankämpfen. Selbst im Tode und mit all seinen schrecklichen Verletzungen erschien ihm der Drache mit einem Male unglaublich schön; ein gewaltiges, majestätisches Geschöpf, vielleicht das edelste, das die Natur jemals hervorgebracht hatte. Dass dieses Wesen von einer seelenlosen Kreatur wie dem Skull getötet worden war, erschien ihm einfach nicht gerecht. Es durfte nicht sein. Und es durfte sich nie, nie wiederholen.
Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, zog geräuschvoll die Nase hoch und drehte sich herum.
Sie waren nicht mehr allein.
Nachdem die beiden Wirbelstürme verschwunden waren, waren ein Mann und eine Frau neben ihnen aufgetaucht und es bedurfte nur eines einzigen Blickes, um Kim davon zu überzeugen, dass es sich um Sturms Eltern handelte.
Der Mann war ein Riese, mindestens so groß wie Gorg, wenn nicht größer, und mit silbernem Haar, in dessen Spitzen winzige, elektrische Funken tanzten. Seine ganze Kleidung bestand aus geflochtenen Silberfäden, in denen es ebenfalls ununterbrochen blitzte und knisterte, und er hatte ein schmales, eben geschnittenes Gesicht mit intensiv blau leuchtenden Augen.
Die Frau schien das genaue Gegenteil zu sein. Sie war eher klein, hatte ein gutmütiges, rundes Gesicht und eisgraues Haar und gleichfarbige Kleidung. Sie war über und über mit Eiskristallen und Schnee bedeckt. Dampfende graue Kälte stieg von ihrer Gestalt auf.
»Das ist sonderbar«, sagte der Mann. Seine Stimme war leise, aber so machtvoll wie ein entferntes Gewittergrollen. »Dieses Wesen war dein Todfeind und doch sehe ich Tränen der Trauer in deinen Augen.«
»Es ist niemals schön, wenn ein lebendes Wesen stirbt«, antwortete Kim. Sein Blick wanderte über die verwüstete Flanke des Berges. Schwarze, reglose Gestalten bedeckten den Fels wie verbranntes Herbstlaub.
»Ihr hättet sie nicht zu töten brauchen«, sagte er.
»Sie haben versucht unseren Sohn zu töten«, antwortete der Mann.
»Ich weiß«, antwortete Kim. »Ich war dabei.«
»Und du hast ihn gerettet.« Nun war es die Frau, die sprach. Ihre Stimme war so leise wie die ihres Mannes und so frostig wie das Heulen des Nordwindes in einer mondlosen Novembernacht. »Dafür schulden wir dir auf immer Dankbarkeit.« Sie tauschte einen Blick mit ihrem Mann und fuhr erst fort, nachdem er mit einem fast unmerklichen Nicken darauf geantwortet hatte. »Wir werden dir einen Wunsch erfüllen. Was es ist, es sei dir gewährt, solange es in unserer Macht steht.«
»Dann beendet das alles hier«, sagte Kim. »Den Krieg! Das Töten und Zerstören muss ein Ende haben.«
»Du verlangst das Unmögliche«, antwortete der Mann, »und du weißt es. Wir könnten es tun. Es wäre ein Leichtes für uns, ihre Armeen zu zerstreuen und ihre Festungen zu zerstören, so wie wir das Reich der Zwerge zerstört haben. Aber waren es nicht deine eigenen Worte, dass der Frieden nicht befohlen werden kann?«
»Ich weiß«, murmelte Kim. »Aber ich musste es wenigstens versuchen.«
Sturms Mutter lächelte und trotz ihres eisigen Äußeren und des Frostes in ihrer Stimme war es ein warmes und sehr wohl tuendes Lächeln. »Hast du sonst einen Wunsch?«
»Nein«, sagte Kim leise. »Ihr habt uns gerettet. Damit sind wir quitt.«
»Dann wird es Zeit, zu gehen«, sagte Sturms Vater. Er wandte sich an seinen Sohn. »Verabschiede dich von deinen Freunden.«
Sturm senkte den Blick und begann unbehaglich mit dem Fuß zu scharren. »Ich bleibe hier«, sagte er leise.
Sein Vater zog die Augenbrauen zusammen. Die elektrischen Funken in seinem Haar knisterten heller. »Wie?«
Mit großer Überwindung hob Sturm den Kopf und sah seinem Vater in die Augen. »Ich ... möchte bei ihnen bleiben«, sagte er noch einmal mit sehr leiser, aber jetzt fester Stimme.
Sein Vater schüttelte den Kopf. Die Luft schien plötzlich vor elektrischer Spannung zu knistern. »Es ist uns verboten, uns in die Angelegenheiten der Menschen zu mischen«, sagte er, »und das mit gutem Grund. Hast du noch nicht genug Schaden angerichtet?«
»Mehr als genug«, antwortete Sturm niedergeschlagen, aber trotzdem in entschlossenem Ton. »Deshalb will ich ja bleiben. Vieles von dem, was hier geschehen ist, ist meine Schuld. Ich will mithelfen es wieder gutzumachen.«
Sein Vater wollte auffahren, aber seine Frau legte ihm rasch die Hand auf den Unterarm und antwortete ruhig: »Wir könnten dich zwingen uns zu begleiten. Aber wir werden es nicht tun. Wenn es dein fester Wille ist, mit deinen neuen Freunden zu gehen, dann kannst du es tun.«
»Doch du weißt, was es bedeutet«, fügte ihr Mann hinzu. »Wenn du bleibst, so als ganz normaler Mensch. Du wirst sterblich sein, so verwundbar und schwach wie sie.«
»Ich weiß«, antwortete Sturm. »Aber ich bin es ihnen schuldig.«
»Zu sterben?«, mischte sich Kim ein. »Sei kein Narr!«
Sturm schüttelte entschlossen den Kopf. »Ich bleibe.«
»So sei es«, sagte sein Vater. Sturms Mutter schien noch etwas hinzufügen zu wollen, ließ es dann aber bei einem wortlosen Seufzer und schloss ihren Sohn zum Abschied kurz und heftig in die Arme. Als sie sich wieder voneinander lösten, hatte Kim den Eindruck, dass Sturm irgendetwas rasch in der Tasche verschwinden ließ, war aber nicht sicher.
Sturms Eltern traten zwei, drei Schritte zurück. Plötzlich kam Wind auf, ein so eisiger, schneidender Wind, dass Kim erschrocken den Kopf senkte und schützend die Hände vor das Gesicht hielt.